Blog -- Teil 6 -                                           Ambulante Therapien  -  Mein Rollerclub  -  in Rente  -  Neues Selbstvertrauen   -   2. Reha

 

XV

Mitte April 2000 hatte ich die KG-Therapeutin gewechselt. Ein neues von Dr.He… ausgeschriebenes Heilmittelrezept über 10 neue KG-Anwendungen und der Umstand, daß meine Bobath-Therapeutin  drei Wochen in Urlaub ging, gab mir die Gelegenheit auf Empfehlung zu einer anderen Therapeutin zu gehen. Frau Al…. hat ihre Praxis in ihrem Wohnhaus auch bei uns im Stadtteil, allerdings noch 1 km weiter entfernt.

Sie ist ausgebildet und praktiziert nach dem Prinzip und der Theorie von Prof.Dr. Vojta. Die Vojta-Therapie begründet sich auf Druckimpulsreizung am ruhenden Patienten an bestimmten Reflexzonen des Körpers. Diese Krankengymnastikart wird vornehmlich bei Klein-kindern angewendet, findet aber auch immer mehr Zustimmung bei Hemiparesekranken oder ähnlichen, chronischen Krankheitserscheinungen bei Erwachsenen.

Da ich sowieso den Eindruck hatte, daß ich mit der bisherigen Bobath-Therapie bei Frau Mara B. keine spürbaren Erfolge mehr erreichen würde und ich bei ihr in meiner körperlichen Verfassung und der Verbesserung zum Stillstand gekommen war, kam mir der Therapiewechsel sehr gelegen.

Frau Al…. fand an meinem Körper Druckreflexpunkte, die meine Nervenbahnen derart stark reizten, daß es meinen Körper längs durch-strömte und dadurch Muskeln gereizt, stimuliert und neu aktiviert wurden, die seither nie mehr gearbeitet hatten. Es war für mich ein berauschend glückliches Gefühl und ich spürte wieder neue aktive Fortschritte in meinen Bewegungsabläufen.

Ich hatte wieder Erfolgserlebnisse, auf die ich schon seit längerem vergeblich gewartet hatte. Ich bekam das Gefühl, daß mich diese Therapie und auch die Therapeutin sehr gut in meiner weiteren Rehabilitation weiterbringen würden.

Zu Beginn war es ihr schon nach vier Anwendungen gelungen, daß ich keine Schmerzen mehr in der linken Schulter hatte. Danach kam wieder aktive Bewegung in den Arm. Ich konnte ihn wieder bewußt ausstrecken und mit starker Willenskraft war ich in der Lage etwas durch Schließen der Hand mit den Fingern festzuhalten.

Zuerst konnte ich den Zeigefinger bewegen – nur ganz wenig, nur ein paar Millimeter. Aber die winzige Bewegung war nicht zu übersehen. Dann folgte der Daumen, der dem Zeigefinger entgegenkam. 

Bei den ersten Bewegungen erfüllte mich eine glückliche Freude :

‚Schau – es geht !  Geht`s gleich noch einmal ? Wird es in einigen Minuten, in einer Stunde, wird es morgen, übermorgen wohl auch 

noch gehen?’ – Es ging - und es geht immer noch! 

Da versteht man plötzlich, daß der Unterschied zwischen Null und Nullkommaeins größer ist als der zwischen Eins und Eintausend.

Auf der Hochschule, als Student, hätte ich wohl diese Gegenüberstellung in einer mathematischen Formel dargestellt :

( 0 < 0,1 ) = > = ( 1 < 1000 ) .

Es war ein beglückendes Gefühl, wieder etwas mit meiner linken Hand machen zu können.

Ich hatte zweimal in der Woche meine Therapietermine bei Frau Al… . Ingrid brachte mich mit dem Auto hin und zurück. Sie konnte sogar während der Anwendung dabei sein. Anfangs sah sie nur aufmerksam zu, doch dann fragte sie einmal, ob sie wohl auch mitmachen könne.

Frau Al… zeigte ihr die Druckreflexpunkte an meinem Körper und von nun an wurde ich oft von vier Händen gleichzeitig therapiert.

Es war ein gutes Gefühl mit viel Erfolg.

An einigen Tagen bekam ich keinen Termin am Nachmittag, so daß mich Ingrid nicht hinfahren konnte. Also ging ich auch diesen 2 km langen Weg hin und zurück zu Fuß. 

Wenn ich einen guten Tag hatte, schaffte ich den Weg bei gutem Wetter im Sommer sogar in ½ Stunde. Auf dem Rückweg kam ich immer an meiner Sparkassenfiliale vorbei und konnte so noch einige Bankgeschäfte tätigen, Überweisungen abgeben, Bargeld abheben oder mir meine Kontoauszüge ausdrucken.

Auch derartige selbstständige Tätigkeiten in der Öffentlichkeit unter den beobachtenden Blicken anderer gesunder Menschen stärkte mein wiedererlangtes Selbstbewußtsein. 

Bei solchen Begegnungen, wie z.B. an der schwer zu öffnenden Eingangstür in die Sparkasse, erfuhr ich dann oft sehr große Hilfsbereit-schaft von mir völlig fremden Leuten, die mir die Tür öffneten und aufhielten bis ich durchgegangen war. Auch die Dame am Tresen, die meine Überweisung entgegen nahm, bemerkte sofort meine linke, gelähmte Hand und hielt das Formular auf dem Tisch fest, damit es mir beim Unterschreiben nicht verrutschte. ‚Sehr aufmerksam’ dachte ich   ‚anscheinend bin ich wohl hier bei ihr nicht der erste Einhändige.’

An dieser Stelle muß ich hier einmal meine große Dankbarkeit für die starke Zuwendung von meiner lieben Ehefrau Ingrid zum Ausdruck bringen. Sie hat mit ihrer unermüdlichen Geduld, Ruhe und Gelassenheit, aber auch richtigerweise oft mit unerbittlicher Ermahnung und scharfem Ansporn beim Training vom ersten Tag an 

immer zu mir gehalten.

Eine Katastrophe von der Art, die ein Schlaganfall auslöst, ist durchaus ein aussagekräftiges Zeichen für die Standhaftigkeit einer Partnerschaft oder eben auch einer Eheverbindung.

Ich habe es nun selbst erlebt, weiß es aber auch aus Gesprächen mit an-deren Betroffenen. Wenn eine Partnerschaft, die nach außen hin nicht zu jeder Tageszeit immer überschwenglich harmonisch aussehen muß, im Kern aber gesund ist, so wird sie durch einen Schicksalsschlag, der einen der beiden Partner trifft, nicht zerstört, sondern im Gegenteil sogar vertieft. Ist eine Verbindung aber nicht recht in Ordnung, so geht sie im Katastrophenfall in aller Regel auseinander und kann der schweren Schicksalsprüfung nicht standhalten. 

 

 

XVI

Im Folgenden möchte ich hier ein Thema anschneiden, welches in meinem ´Leben davor`, aber auch vor allem jetzt danach, eine wichtige Rolle gespielt hat.

Ich hatte mir im Frühjahr 1996 ein neues Fahrzeug zugelegt. Es war ein Motorroller mit einem größeren und stärkeren Motor als diese Stadt-roller mit 50 ccm. Mein „Leonardo“ hatte 125 Kubikzentimeter Hub-raum und satte 13 PS. Nach dem gerade in dem Jahr geänderten Führerscheingesetz durfte ich nun mit meinem Autoführerschein Klasse 3 auch Motorräder oder Motorroller bis 125 ccm und 15 PS fahren.

Ich hatte großen Gefallen daran gefunden meinen Roller zu fahren und nutzte jede Gelegenheit in meiner Freizeit mit ihm durch die Land-schaft rund um Bremen zu fahren. Ich lernte dabei viele andere Motorrad- und Rollerfahrer kennen. Außerdem fuhr ich damit, wie bereits auf Seite 1 erwähnt, fast täglich die 10 km zur Arbeit. Das war kostengünstig und schneller als mit dem Auto, außerdem machte es mir Spaß, mich so beweglich durch den zähflüssigen Berufsverkehr zu schlängeln.

Im Sommer ´96 gründete ich mit vier anderen Rollerfahrern, die ich kennengelernt hatte, den „Ersten norddeutschen Leonardo-Club“.

Wir trafen uns einmal im Monat in geselliger Runde, tauschten Erfah-rungen , Erkenntnisse und Erlebnisse aus, die wir mit unseren gleich-artigen Rollern gemacht hatten. Wir planten kleine gemeinsame Tages-touren und größere, längere Fahrten. Noch im selben Jahr organisierte ich im Herbst eine Tagestour für uns 5 Rollerfahrer.

Im folgenden Jahr fuhren wir in einer Gruppe von 6 gleichgesinnten Leonardofahrern in den Harz nach Oderbrück.

Im Mai 1998 waren wir mit 9 Leonardofahrern plus 3 Frauen auf Vatertagstour über vier Tage in Holland.

Im Sommer desselben Jahres organisierte ich eine Wochenendtour. Wir fuhren mit 7 Leos gemeinsam zu einem deutschen Rollertreffen nach Rüdesheim.

Auf der Vatertagstour im Mai 1999 fuhren wir in den Thüringer Wald.

Schon im Herbst dieses Jahres begann ich die Planung für eine große Aktion, eine Fahrt in die Alpen im Sommer 2000 für eine kleine Gruppe von vier Rollerfahren einschließlich mir.

Doch dann kam ab dem 2.Dezember ´99 alles anders als geplant und gedacht.

Zu Beginn des Milleniumjahres, als ich ja in der Rehaklinik in Lingen war, habe ich noch nicht so recht abschätzen können, wie weit und wie schnell meine körperliche Rehabilitation voranschreiten würde. Ich habe da noch gehofft, daß ich bis zum Sommer ein Großteil meiner Körperfunktionen wiedererlangt haben würde, so daß ich mit in die Alpen hätte fahren können .                                                                                                                         

Aber ich kam nicht soweit voran. Ich war gezwungen die Reise abzusagen. Die Fahrt mit dem Autoreisezug für die lange Anreise von Bremen nach München mußte storniert werden. Aber in weiser Voraussicht war eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen worden, so daß es keine Kosten verursachte. Das Quartier für mich im Naturfreundehaus „Alpetalhütte“ in den Berchtesgadener Alpen konnte ich  ohne Probleme noch rechtzeitig abmelden.

Somit fuhren meine drei Freunde im Juni 2000 ohne mich mit ihren Rollern durch die herrliche Alpenlandschaft.

Aber ich wagte es später als Sozius bei meinem Clubfreund Reno auf seinem Leonardo hinten drauf auf einer Tagestour mitzufahren.

Dabei saß ich relativ sicher, mit beiden Füßen auf den Soziusfußrasten, dicht hinter ihm und hielt mich an ihm zusätzlich rechts fest.

Seitdem ich aus der Reha wieder in Bremen zurück war, fuhren Ingrid und ich auch wieder zu den monatlichen Treffen am Leonardo-Stamm-tisch. Dort besprachen wir viele interessante Dinge und legten unsere nächsten Ausfahrten fest. Zuhause arbeitete ich die Touren dann am Computer genau aus, schrieb die Wegbeschreibungen, Entfernungen und Planungszeiten auf, die ich dann für jeden Fahrer für die nächste Tour ausdruckte.

Unser Rollerstammtisch war für mich die erste und beste Möglichkeit wieder unter die Menschen zu kommen. Andere Menschen haben ihre Sportvereine, Schützenvereine, Kegelclubs o.ä., um in der Gemeinschaft ihre Freizeit zu verbringen. Ich kann so etwas körperlich nicht mehr. Aber meine Rollerfreunde haben mich nicht vergessen und mich wieder voll integriert. Einer von ihnen, der Reno, hatte mir Mut gemacht und nahm mich als sein Sozius auf allen Ausfahrten wieder mit.

Ich war wieder draußen „on the road again“. 

Ich sah die Landschaft wieder durch mein Helmvisier. 

Ich war wieder ein Rollerbiker.

Diese Gefühle und Empfindungen erlebt man in der Gemeinschaft solch eines Bikerclubs und ich insbesondere eben auch an meinem Leonardo-Stammtisch.

 

XVII

Anfang Mai 2000 war ich wieder zum regelmäßigen Arztbesuch bei meinem mich betreuenden Hausarzt Dr.He… . Er ist zweifelsohne ein guter Facharzt als Internist und riet mir von sich aus, daß ich doch einmal einen Neurologen aufsuchen sollte. Dieser Gedanke beruhte auf Gegenseitigkeit, zumal ja meine Krankheit hauptsächlich neurologisch zu behandeln war.

Somit hatte ich Mitte Mai meinen ersten Arztbesuch beim Neurologen Dr. Me… . Er untersuchte mich gründlich und fragte meinen Krankheitsverlauf genau ab. Er nahm sich viel Zeit für mich und ließ mich in Ruhe meine schicksalhafte Geschichte erzählen.

Ich hatte einen vertrauenswürdigen Eindruck von ihm gewonnen.

Er machte mir einige Hoffnungen in Bezug auf die weitere Wieder-erlangung meiner verlorengegangenen körperlichen Funktionen. 

Er verschrieb mir ein zusätzliches Medikament gegen die zunehmende Spastik in meinem linken Arm und übernahm in Absprache mit meinem Hausarzt das Rezept für meine nächsten KG-Therapien.

Da mittlerweile über ein halbes Jahr seit dem 2. Dezember ´99 vergangen war und ich immer noch Krankengeld von der Kranken-kasse erhielt, wollte die TKK sich nun selber über meinen Zustand informieren. Außerdem wollte man meine Aufnahme in die berufliche Tätigkeit, bzw. die Voraussetzungen zur stufenweisen Wiederein-gliederung von neutraler Stelle aus untersuchen lassen.

 Am 17. Mai wurde ich zu einer umfangreichen Untersuchung zum Medizinischen Dienst (MDK) beordert. 

Die Ärztin bestätigte in ihrem Bericht meine Krankheitssymptome in allen Punkten gleichlautend zu den Beurteilungen des Reha-Arztes und den Diagnosen meiner beiden Fachärzte. Am Ende ihres Berichtes befürwortete sie meine Arbeitswiedereingliederung in der Firma, empfahl weitere krankengymnastische und ergotherapeutische Behand-lungen sowie nach Ablauf eines weiteren halben Jahres eine erneute stationäre Rehamaßnahme.

Zum Schluß meines Besuches stellte sie mir die aufrichtige Frage, ob ich denn schon mal daran gedacht hätte meinen Beruf ganz aufzugeben und die Erwerbsunfähigkeitsrente einzureichen.

So spontan gefragt, konnte ich mich damals mit diesem Gedanken noch nicht anfreunden. Aber die Überlegung stand schon öfters im Raum.

Parallel zu meiner bereits laufenden Arbeitswiedereingliederung hatte ich trotzdem einen Antrag auf Feststellung meiner Schwerbehinderung beim Versorgungsamt gestellt. Überraschend schnell bekam ich dann meinen Schwerbehindertenausweis, rückwirkend ab 10.3.2000 gültig, mit einem Grad der Behinderung von 60% ,

dem Merkzeichen „G“ für eine erhebliche Gehbehinderung und

dem Merkzeichen „B“ für die Notwendigkeit einer ständigen Begleitung.

Mit diesem Ausweis hat man einige Vergünstigungen im öffentlichen und sozialen Leben. So können wir z.B. beim Kaufhaus auf dem näher-gelegenen Schwerbehinderten-Parkplatz parken. Einen Nachlaß gibt es in der monatlichen Telefonrechnung auf die Grundgebühr. Allerdings wurde mir eine Steuerbegünstigung  der Kfz-Steuer abgelehnt, da unser Auto nicht ausschließlich für mich zur Beförderung genutzt wird. 

Eines guten Tages, ich saß in der Firma an meinem Schreib-tisch am PC, kam mein Chef zu mir und unterhielt sich mit mir über eigentlich belanglose Dinge, was mich schon bißchen stutzig machte. Aber dann kam er auf den Punkt und stellte mir die gleiche Frage, wie einige Wochen vorher bereits die Ärztin vom MDK, ob ich denn nicht schon mal daran gedacht hätte die Rente einzureichen, das wäre doch für alle Beteiligten und vor allem für mich wohl das Beste.

Als ich dann am nächsten Tag auch noch auf meinem Kontoauszug die dürftige Krankengeldüberweisung sah, stand es für mich fest : 

Ich trete aus dem im Krankenstand befindlichen Berufsleben aus.

Ich reichte am 2. Juli 2000, das war auf den Tag genau sieben Monate nach meinem Schlaganfall, meinen Rentenantrag bei der Seekasse ein.

  Natürlich wollte man von dort aus nun auch selber über meinen Zustand informiert sein und bestellte mich für eine Untersuchung zum Arzt in die Bremer Zweigstelle der Seekasse. Diese Untersuchung wurde sehr umfangreich und gewissenhaft an mir durchgeführt. Der Kassenarzt Dr.Eh… stellte danach in seinem Untersuchungsbericht meine völlige Erwerbsunfähigkeit fest.

Eine Woche später folgte eine erneute Untersuchung an mir von der Ärztin Frau Dr.We..-Ah..vom Medizinischen Dienst der Krankenkasse. Beide Kassen, die Seekasse als Rententräger und die Technikerkasse als Krankenkasse  verständigten sich gegenseitig und schlossen sich kurz. So kam es, daß ich am 31.Oktober 2000 rückwirkend ab dem 

25.02.00 aus dem Krankschreibungsstand heraus genommen wurde und ab dem 26. Februar 2000, dem Tag meiner Entlassung aus der Rehaklinik, als EU-Rentner benannt und angehoben wurde.

Angehoben deshalb, weil ich damit, nach genau 40 Jahren ununter-brochener Berufstätigkeit und Rentenbeitragszahlungen, eine sehr gute Rente ausgerechnet bekam, die ich von nun an regelmäßig monatlich überwiesen bekam.

Beide Kassen verrechneten ihre Zahlungen miteinander und ich bekam das rückwirkende Differenzguthaben aus der Rentenzahlung ab dem 

26.02.2000, was über dem bereits ausgezahlten Krankengeld lag, am Ende des Jahres ausgezahlt. Das war sozusagen mein diesjähriges „Weihnachtsgeld“.

Parallel zu diesen lebenseinschneidenden Ereignissen lief begleitend immer noch meine freiwillige Tätigkeit in der Firma bis zum 29. September 2000, meinem letzten Arbeitstag in der Firma als Diplom-Ingenieur und in meinem vierzigjährigen Berufsleben.

Eine Woche danach wurde ich nochmal zu meiner eigenen Abschiedsfeier in die Firma gerufen. Es hatten sich dazu alle Mitarbeiter, mit denen ich enger zusammengearbeitet hatte, im Konferenzraum zum Kaffee und Kuchen zusammengefunden. Mein Vorgesetzter hielt eine Rede mit einem kurzen Rückblick meiner zwanzigjährigen Tätigkeit in der Firma und den abschließenden guten Wünschen sowie weiterer gesundheitlicher Genesung für die nähere und ferne Zukunft. Dann überreichte er mir eine nette Abschiedskarte, auf der alle Kollegen unterschrieben hatten, sowie ein gemeinschaftlich hergestelltes Filter-sieb, welches symbolisch als Spardose umfunktioniert worden war, worin man für mich einige hundert Mark als Abschiedsgeschenk gesammelt hatte.

Ich hielt eine kurze Gegenrede und bedankte mich bei allen meinen Kollegen für das nette Geschenk und für die gute langjährige Zusammenarbeit. Ich schloß meine Dankesrede, etwas aufgeregt in der Stimme, mit den Worten: „Danke für alles, liebe Kollegen, ich wäre gerne noch weitere sieben Jahre bei euch geblieben und ich hätte gerne noch hier zusammen mit euch weitergearbeitet. Vergeßt mich nicht ! – Vergeßt den Jürgen Aschemoor nicht !“

Und der Beweis, daß sie mich nicht vergessen hatten, kam zwei Monate danach, als ich zur Adventsfeier der Firma eingeladen wurde.

Alle Betriebsangehörigen waren da versammelt und ich wurde vom Geschäftsführer in seiner Ansprache  als ‚Ehemaliger’ und ‚jetzt unser jüngster Rentner’ begrüßt. Das war schon recht merkwürdig und ungewohnt für mich nun so tituliert zu werden.

 

 

XVIII

Eine Woche vor meinem Rentenbescheid feierte ich zuhause am 26. Oktober meinen 58. Geburtstag, ganz besinnlich und etwas nachdenklich zum erstenmal als Frührentner im Kreise meiner Familie.

Am 2. Dezember, es war in diesem Jahr ein Sonnabend, jährte sich zum erstenmal mein Schicksalstag. An diesem Tag blickte ich in Gedanken das Jahr zurück. Ich nahm mir meine Tagebuchaufzeichnun-gen, welche ich inzwischen von den handschriftlichen Notizen in den Computer übertragen hatte, nochmal vor und erinnerte mich dabei auch an einige Gespräche. 

So zum Beispiel auch an die Antworten auf meine oft gestellte Frage: „Wie lange brauche ich wohl noch, bis ich wieder richtig gehen und greifen kann ? “

Die ersten Aussagen von Ärzten im Krankenhaus und in der Rehaklinik waren sehr zögernd gegeben worden. Es hieß dann: „...ein halbes Jahr oder auch ein Jahr, aber das ist von Fall zu Fall immer sehr unterschiedlich.“  

In einer späteren Aussage hieß es dann: “Rechnen Sie mal mit mindestens zwei Jahren.“

Der Chefarzt in der Rehaklinik gab mir in dem Abschlußgespräch eine Richtzeit von sieben Jahren mit auf den Weg.

Mein neues „zweites“ Leben ist von gänzlich anderen Zeitabschnitten, Wertvorstellungen und Prioritäten geprägt, als mein altes „erstes“ Leben, das mit dem Apoplex, wie der Schlaganfall in der Medizinersprache genannt wird, sein Ende gefunden hat.

Standen  damals, in den Jahren und Jahrzehnten vor der Katastrophe, die Gründung der Familie, die Ehe, die Kindererziehung, der Beruf, der Job und beruflicher Erfolg im Vordergrund, so steht heute an erster Stelle das Motto: ‚ Bloß kein zweiter Schlaganfall ’ über meinem einfachen, bescheidenen Leben.

Der Wandel hat sich – ohne daß ich selber viel dazu getan hatte – nahezu automatisch in den Monaten meiner Rehabilitation in Lingen vollzogen. 

Dort  hatte ich ausreichend Gelegenheit aus nächster Nähe auch bei anderen Menschen zu sehen, welche schrecklichen Folgen Schlag-anfälle haben können, nicht nur für die körperliche Motorik, sondern auch für die Sprache, das Wahrnehmungsvermögen, das Gedächtnis und die Psyche des Betroffenen. Denn angesichts der ungeheuren Komplexität des menschlichen Gehirns, gleicht kein Hirninfarkt dem anderen.

Sehr rasch habe ich damals erkannt, daß ich mit meiner Lähmung der linken Körperhälfte noch glimpflich davon gekommen bin, daß mich unser Herrgott im Falle eines zweiten Schlaganfalles wohl kaum so ‚günstig’ bedienen kann, wie er das beim ersten und hoffentlich einzigen Mal getan hat.

Im übrigen hatte ich mit meinen Ärzten in Bezug auf ihre ehrliche Offenheit eigentlich viel Glück. Nicht einmal andeutungsweise hat mir jemals jemand nahegelegt, mich mit meiner halbseitigen Lähmung abzufinden. Zwar konnte mir niemand sagen, ob, wann und in welchem Ausmaß die Rehabilitation Erfolg haben würde, aber die Hoffnung auf Besserung wurde von allen Ärzten und Therapeuten genährt.

Der Neurologe Dr.Sch… in der Hedon-Klinik, Lingen gab mir in einem vertraulichen Gespräch einmal einen ernstgemeinten Rat. 

Er erklärte mir auf meine Fragen hin, daß bei den meisten Apoplexpatienten aufgrund der tiefgreifenden psychischen Veränderung häufig auch das eigene Selbstbewußtsein verloren geht. Es sei aber ganz wichtig, es wieder zu erlangen und sich selber wieder anzueignen. Um das zu erreichen, muß man sich wieder in die Gesellschaft begeben, muß man wieder unter Menschen sein, mit Freunden, mit Bekannten und Nachbarn zusammensein und reden.

Daran habe ich gedacht, als Ingrid und ich zur Geburtstagsfeier unseres Nachbarn Günther, der mich in der Rehaklinik auch besucht hatte, 

eingeladen waren.

Am Nikolaustag, den 6. Dezember 2000, feierten wir im nahegele-genen guten Gasthaus Günthers 70. Geburtstag.

Ich hatte mich ein paar Tage zuvor bei seiner Frau Inge erkundigt, ob wohl jemand von der Verwandtschaft ein paar Worte aus seinem Lebenslauf sprechen würde. Dem war nicht so.

Da fühlte ich mich berufen das zu übernehmen. Ich hatte im Laufe der nachbarschaftlichen Jahre schon einiges über ihn und die alten Zeiten erfahren und erkundigte mich noch über einige Einzelheiten bei seiner Frau und hatte dann einen Tag zuvor alles stichwortartig als Konzept für meine Rede zusammengeschrieben. 

Dann nach dem Hauptgericht vor der Nachspeise  erhob ich mich an unserem Tisch, klingelte mit dem Löffel an mein Glas und griff nach meinem Zettel. – Während die Gespräche langsam verstummten, schossen mir Gedanken durch den Kopf : ‚Was mach` ich hier jetzt eigentlich? – Ich bin hier der schwächste Mensch von allen im Saal 

und ich – gerade ich – will jetzt eine Festrede halten ! ’ 

Ich war sehr aufgeregt und spürte meinen rasenden Pulsschlag bis zum Hals. Mein linker Unterarm zog sich bis über den Gürtel vor meinem Bauch hoch. Ich sprach vor 50 Leuten, die mir aufmerksam zuhörten, mich genau beobachteten und neugierig musterten . 

Während ich redete merkte ich, wie vereinzelt an den Tischen getuschelt wurde. Derjenige, der es noch nicht wußte, bekam es nun von seinem Tischnachbarn zugeflüstert : „Das ist der mit dem Schlaganfall – der ist noch links gelähmt – siehst du das.“

Ich hatte in meinem Konzept daran gedacht einige lustige Bemerkun-gen zur Auflockerung mit einzuflechten. Es trug zur allgemeinen Erheiterung bei. Es wurde zwischendurch herzhaft gelacht und das waren dann ein paarmal die Momente, wo ich Redepause hatte und die Anspannung in mir von mal zu mal immer weiter nachließ. Mein Arm löste sich langsam aus der spastischen Haltung und senkte sich herab. Zum Schluß, bei meinen letzten Worten erhob ich ganz gelassen ruhig mein Glas und prostete zum Wohle des Jubilars allen Gästen zu.

Es gab danach einen begeisterten Beifall. Er tat mir gut.

Ich war etwas benommen. Es war vergleichbar in etwa so, als wäre ich gerade von einem 50 Meter hohen Felsen als Klippenspringer ins Meer gesprungen und als ich aus dem Wasser wieder auftauchte, nahm ich meine Umgebung wieder wahr. Ich saß wieder auf meinem Stuhl, der Beifall verhallte im Saal.

Ich hatte meine große Feuerprobe bestanden und mich selber wieder ins aktive Leben gestoßen. Ich hatte das von meinem Neurologen als mangelhaft prophezeite Selbstbewußtsein wiedergewonnen. Es war mir gelungen den psychischen Bann zu durchbrechen.

 

Vier Tage vor Heiligabend hatte ich meine letzte KG-Therapie bei Frau Al… in diesem Jahr und vor meiner 2. Reha, denn ich hatte wenige Tage zuvor meine ein paar Wochen davor beantragte neue Rehamaßnahme von der Techniker Krankenkasse genehmigt bekom-men.

Der Aufnahmetermin und Anreisetag wiederum in der Hedon-Klinik, Lingen sollte der 3. Januar 2001 sein.

Aber zuvor hatte ich mein erstes Weihnachtsfest und Silvester wieder gemütlich zuhause gefeiert. In solchen besinnlichen Momenten habe ich mich dann wieder an meine einsamen Stunden im Krankenhaus und in der Hedon-Klinik vor einem Jahr erinnert.

Zu unserer aller Freude war unser ältester Sohn Roland aus Bayern von Lenggries, bei Bad Tölz, über München angereist gekommen. So waren wir in der Familie zu Weihnachten mal wieder alle komplett beisammen.

Zwischen Weihnachten und Silvester hatte ich noch einen Termin im Großen Krankenhaus, Bremen in der Stationsabteilung der Radiologie zur erneuten zweiten Kontrolluntersuchung meines Gehirns. Ich wurde dort nochmal liegend durch die Magnetröhre gefahren zur Erstellung von neuen aufschlußgebenden Kernspinntomographie-Aufnahmen.

Der Chefarzt der Radiologie Prof.Dr. Ter…erklärte mir die frischen Schichtaufnahmebilder. Im Vergleich zu den ersten Aufnahmen ein Jahr zuvor konnte man sehen, daß die ursprünglich verstopfte Ader sich an der Stelle geschlossen und vernarbt hatte. Das war seiner Meinung nach sehr gut so, denn es hatte sich auch keine neue Engstelle gebildet, sondern alle anderen Adern um den kirschkerngroßen, abgestorbenen Teil herum wurden normal gut durchblutet.

Ich nahm die ersten, alten Bilder und die zweiten, neuen Aufnahmen alle am 3. Januar mit in die Rehaklinik.

 

 

XIX

Die Anreise zur Hedon-Klinik nach Lingen machte ich mal wieder mit einem aus Lingen kommenden Taxi. 

Bei der Patientenaufnahme äußerte ich den eindringlichen Wunsch wieder auf der Station N4 einquartiert zuwerden. Ich bekam das Zimmer Nr.422 am Ende des Flures zugewiesen. Es war schönes Zimmer auf der Südseite mit Balkontür zu einer kleinen Terrasse hinaus, auf der ein Liegestuhl stand.

Nur schade, daß es jetzt nicht Sommer war.

Die Schwestern waren alle noch dieselben geblieben, hatten mich sofort wiedererkannt und herzlich begrüßt. Auch zum Mittagessen im großen Speisesaal erkannte man mich gleich wieder und Marion machte mich darauf aufmerksam, daß am Tisch 4, am Fenster, der Heinz-Gerd  sitzt, der genau letztes Jahr auch zu meiner Zeit hiergewesen war. 

Ich setzte mich zu ihm an seinen Tisch. Wir kamen sofort ins Gespräch und erinnerten uns an den Einen oder Anderen, der auch vor einem Jahr hiergewesen war. Er hatte danach noch zu einigen Leidens-genossen Kontakt gehabt und berichtete mir von zwei Männern, die im Laufe des Jahres beide nach einem zweiten Schlaganfall gestorben waren.

Ich war also nun wieder hier und fühlte mich schon am selben Tag relativ wohl. Wenn mich einmal jemand zuhause besucht hatte, der mich längere Zeit nicht mehr gesehen hatte, so hatte ich oft gehört wie sehr sich mein körperlicher Zustand und ich mich insgesamt doch ver-ändert und verbessert hätten.

Nun stellte ich es selber an mir fest, daß sich z.B. meine Gangart, die Schnelligkeit und die Gangsicherheit verbessert hatten. So manche Stufe oder Treppenabschnitt ohne Geländer, wo ich vor einem Jahr noch Scheu oder sogar Probleme hatte, meisterte ich jetzt mühelos ohne zu zögern. Mein Anreisetag war der Mittwoch gewesen und schon am Donnerstag und Freitag war ich mit den Therapien voll verplant worden.

Ich ging zur Krankengymnastik zu Christiane, bei der ich ein Jahr zuvor die Bewegungsbadgymnastik gemacht hatte. Die Grobmotorik für Arm und Hand führte jetzt die neu angestellte Sonja sehr gut mit mir aus. Zur Elektrotherapie ging ich wieder ins Tiefgeschoß zu Manuela und Marlies.

In die Turnhalle ging ich zur flotten Kathrin und der kleinen Martina, um in der Koordinationsgruppe die Geschicklichkeitsspiele mitzu-machen und das Gleichgewicht zu trainieren. Die Sandbadtherapie unternahm ich alleine immer zwischendurch selber, wenn eine Sand-schüssel gerade nicht belegt war.

Was diesmal neu für mich dazu kam, war das Ergometertraining. Es war das Radfahren auf dem Ergometerstandrad. Das hatte ich vor zwölf Monaten schon einmal versucht aber nicht gekonnt, weil ich ständig den linken Fuß so sehr verdreht hatte, daß ich immer mit dem Hacken oder dem Innenknöchel am Pedal anschlug. Jetzt hatte ich damit keine Probleme mehr.

Für die zweite Woche war in meinem Therapieplan täglich von 8°° bis 17°°Uhr volles Programm angesagt. Das waren jeden Tag  8 Therapien von je ½ Stunde Dauer und zu Beginn jeden Morgen die Kontrollblutdruckmessung. Zwischendurch mußte ich dann noch zu den spe-ziell für mich angeordneten Untersuchungen wie EEG (Gehirnstrommessung), Blutentnahmen zur Cholesterinwert- und Blutzuckerkontrolle erscheinen. Jeden zweiten Tag war Stationsarztvisite, einmal in der Woche die Chefarztvisite auf meinem Zimmer.

Mitte der 2.Woche nahm ich während eines Gespräches mit dem Stationsarzt Dr.Li…bei der Visite die Gelegenheit wahr, um eine weitere Therapie-Verlängerung von zusätzlich 2 Wochen zu bitten.

Er entsprach meinem Wunsch sofort und reichte noch am selben Tag das Gesuch bei der Techniker Krankenkasse ein. Die TKK hatte mich mit der Therapiemaßnahme KK-HV (Krankenkassen-Heilverfahren) ursprünglich für eine Dauer von 3 Wochen zu meiner zweiten Reha geschickt. Dann am Ende der 2.Woche kam von der Krankenkasse aus Bremen das Fax mit dem Einverständnis der Verlängerung um zwei zusätzliche Wochen.

Am folgenden Wochenende brach über das Emsland und damit auch über Lingen und die Hedon-Klinik ein Unwetter mit viel Schnee und Tiefsttemperaturen bis zu  -13°C aus. Darum wurden kurzfristig alle meine geplanten Besuche bei mir wieder abgesagt. – Schade !

Aber alle anderen Leidensgenossen bekamen auch keinen Besuch.

So beschäftigten wir uns im Hause selber und lernten uns dabei etwas näher kennen. Die persönlichen Kontakte empfand ich zudem als sehr interessant und ich muß zugeben, ich war auch oft bißchen neugierig, zu erfahren, wo der Eine oder Andere herkam, was er früher beruflich gemacht hatte und welches Leiden oder welche Schlaganfallauswirkun-gen er nun hatte.

In solchen Gesprächen am Abend bei einem Glas Bier in der Cafeteria habe ich dann ruhig auch von mir erzählt, von meinem Schicksals-schlag, von meiner teilweisen Genesung und den kleinen Fortschritten, die ich inzwischen geschafft hatte oder auch das, was ich noch nicht wieder konnte. Aber ich achtete peinlichst darauf, daß es nicht überheblich oder sogar wehleidig klang. Ich klagte nicht oder beklagte mich auch nicht, sondern war eher zuversichtlich eingestellt.

Da war mein alter Bekannter Heinz-Gerd, der Tischler aus Schüttdorf, mit dem leichten Schlaganfall, der nach dieser zweiten Reha wieder in der Firma weiterarbeiten wollte. Da war Frank, der auch jetzt noch nicht aufhören konnte zu rauchen, obwohl er in beiden Beinen schon alles Kunststoffadern hatte. Da war Franjo aus Hildesheim, der starkes Heimweh nach seinem zuhause hatte und die junge Elke im Rollstuhl, die seit ihrer Gehirntumoroperation eine Perücke trug und dann war da noch der immer lustige August von der Schnapsfabrik aus Haselünne.

Ein paar Tage später wurde eine ältere Dame im Rollstuhl von ihrem Mann an unseren Mittagstisch geschoben. Sie stellten sich vor und es stellte sich heraus, daß sie aus Delmenhorst kamen, eben aus dem Ort, wo ich den Schlaganfall erlitten hatte und dort im Städtischen Krankenhaus gelegen hatte.

Frau Alp… hatte auch einen Schlaganfall erlitten und war, so wie ich, ebenfalls linksseitig gelähmt. Hinzu kam bei ihr noch, daß sie häufig die  Orientierung, sowie das Gefühl und auch jede Schmerzempfindung linksseitig verloren hatte.

Eines Morgens, beim Frühstück, saß sie etwas schief in ihrem Rollstuhl und ihr linker Arm hing außen schlaff neben dem Rad bis zu den Speichen herunter. 

Sie fragte plötzlich ihren Mann : „Wo ist denn meine linke Hand jetzt, Richard ? Sitze ich hier am Tisch im Rollstuhl oder wo?“ 

Richard hob ihren linken Arm hoch, legte die Hand auf ihren Rollstuhltisch und streichelte zärtlich ihre Wange. 

„Du sitzt doch in deinem Rollstuhl, das weißt du doch und wir beide sitzen hier zum Frühstück bei Herrn Aschemoor am Tisch.“ –„Ach ja!“

Damit war für die beiden wieder alles klar und ich war wieder um eine Erfahrung reicher, denn ich hatte begriffen, daß sie in ihrem ohnehin bewegungslosen Arm nun auch kein Gefühl hatte. 

Jetzt wurde mir auch bewußt, warum man mich bei einer der ersten Visiten einmal gefragt hatte, ob ich etwas spüren würde, als mich der Arzt leicht in den Arm kniff.

Ich hatte durch das ständige Gehen mit meinem Stock auf den langen Wegen zu den Therapieräumen mein Gangbild, die Beinkraft und die Ausdauer etwas verbessert. Nur mit meinem linken Schritt war Christiane noch nicht so recht zufrieden. Ich konnte einen langsamen Schritt weit nach vorne machen, aber dann mußte ich den rechten Fuß beim nächsten Schritt ganz schnell vorsetzen, denn ein längeres Gleichgewicht auf dem linken Fuß allein konnte ich nicht halten. Außerdem bemerkte sie, daß ich mir mit Links einen leichten Schleu-derschritt angewöhnt hatte. Sie meinte, das käme daher, daß ich den Schritt zu sehr aus der Hüfte heraus machen würde und daher diese halbkreisförmige Schleuderwirkung entstünde.

Ihre Gegenmaßnahme und meine Übung in den nächsten Tagen war verbunden durch eine hohe Konzentration bei jedem Schritt. Ich machte auch nicht mehr so große sondern eher kleine Schritte. 

Dann kamen allerdings zwei Tage, an denen Christiane wegen einer Grippeerkrankung nicht im Hause war und sie bei mir durch Kathrin vertreten wurde. Sie hatte aber wohl telefonisch Kathrin die Order gegeben, mit mir insbesondere das bessere Gangbild zu üben. Kathrin dachte sich dann eine besondere Therapietechnik für mich aus. Sie legte ein Handtuch auf den Fußboden, ich mußte mit dem linken Fuß da drauf treten und sie zog bei meinem schlurfenden Schritt den linken Fuß ganz gerade nach vorne. So bekam ich wieder das richtige Gefühl für den geraden Schritt ohne Schleudergang.

 

 

XX

Es kam am Ende der dritten Woche in meiner zweiten Reha zu dem bis dahin wohl bedeutendsten Ereignis seit über einem Jahr nach meinem Hirninfarkt.

Es begann am Donnerstag um 11°°Uhr bei der Visite in meinem Zimmer, als mich der Oberarzt Dr. Ann.. fragte, ob ich es mir wohl zutrauen würde, morgen in der Aula am Vortragsabend, ein Referat über meinen Krankheitsverlauf, den Arbeitsversuch in der Firma, meine Erfahrungen bei der Arbeitswiedereingliederung und dem Beginn meiner Erwerbsunfähigkeitsrente zu halten.

Hierzu muß ich vorweg Folgendes erläutern :

Ich hatte ja mein anfangs handschriftlich geführtes Tagebuch in den letzten drei Monaten zuhause auf dem Computer ins leserliche Reine geschrieben. Die Überschrift hieß: 

„Tagebuch – Mein Schlaganfall, mein Schicksalsschlag“ 

„Daten, Notizen, Gedanken, Empfindungen von meiner Krankheit ab der ersten Minute bis in die Zukunft.“

Diesen ersten PC-Ausdruck meines Tagebuches im übersichtlichen DIN-A4-Format hatte ich nun in einem handlichen Schnellhefter hier in die Rehaklinik mitgebracht. 

Es hatten sich zuerst die Schwestern auf meiner Station sehr dafür interessiert, danach wollten es auch einige Therapeutinnen lesen.

Es sprach sich im Hause schnell herum: „Hast du schon davon gehört? Jürgen Aschemoor von der N4 hat ein tolles Tagebuch geschrieben.

Hast du das schon gelesen?“

So hatte auch der Oberarzt von meinem Tagebuch erfahren und, ohne daß ich es wußte, von einer Schwester weitergereicht bekommen und gelesen. Er fand das Tagebuch bemerkenswert gut. 

Dadurch angeregt kam er dann auf die Idee, es könne ja ein Patient am Vortragsabend einfach auch einmal von sich erzählen, anstelle eines allwöchentlichen Arztvortrages. Er fragte mich, ob ich mir das wohl zutrauen würde. Ich sagte zu.

So kam es also, daß ich am Freitag, den 26. Januar 2001, in der Aula der Hedonklinik,Lingen vor der komplett versammelten Patienten-schaft – es waren wohl 150 Leute – ein Referat hielt.

Ich war etwas aufgeregt und hatte schon eine Stunde vorher Lampen-fieber. Ich ging rechtzeitig, eine viertel Stunde vorher schon in die Aula und traf mich dort mit Dr.Ann.., um noch den Ablauf des Vortragsabends mit ihm abzusprechen.

Der Saal füllte sich langsam und als alle anwesend waren, schloß jemand die Tür und Dr.Ann... begrüßte alle Patienten zu einem „besonderen – einmal etwas anderen Vortragsabend“. Er stellte mich kurz vor als einen „Gleichbetroffenen aus den eigenen Reihen“. 

Er stellte für mich einen Stuhl neben das Rednerpult, schraubte das Mikrofon auf meine Höhe herunter und erteilte mir das Wort.

Ich hatte mich natürlich etwas vorbereitet und mir einen kleinen Spickzettel mit einigen Stichworten gemacht, damit ich eine gewisse Richtlinie hatte und nicht den Faden verlor. 

Mein Redekonzept, Stichworte findet man hier im Abschnitt  Blog  _Schicksalsschlag_ / Seite 2

 

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