Blog - Teil 4 -                                Reha Anwendungen - Therapien - erreichte Ziele 

 

IX

Am 12.Januar war nach meiner Rechnung der letzte Tag der gesetzlichen  6 Wochen Gehaltsfortzahlung von der Bremer Firma, bei der ich noch angestellt war. Der Sozialarbeiter von der Hedon-Klinik erklärte mir, daß ich zwar weiterhin vom Stationsarzt Dr.Th.... krankgeschrieben bin, aber nun im Anschluß an meine letzte Gehaltszahlung

das sogenannte Übergangsgeld von der BfA,Berlin erhalten würde.

Es sei schon alles beantragt und ginge nahtlos ineinander über. Das Problem für mich sei nur, daß das Krankengeld bzw. auch das Übergangsgeld nur 65% von meinem zuletzt verdienten Nettogehalt sein würde.

Ich hatte mir seine langen Ausführungen angehört, einfach so hinge- nommen und ihm aus meiner Unkenntnis heraus voll vertraut. Er war sehr nervös und wie sich später herausstellte auch noch schlecht informiert.

Ich hatte schon im Krankenhaus in Delmenhorst in dem Reha-Antrags- formular meine zuständige Krankenkasse und meine Rententrägerkasse angegeben. 

Ich war nämlich einmal vor meinem Hochschulstudium zwei Jahre lang als Ingenieurassistent in der Maschine auf einem Frachter zur See gefahren. Als Seemann war ich während dieser Zeit bei der Seekasse in Hamburg krankenversichert. 

Nun gibt es eine seit Jahrzehnten bestehende Richtlinie, die lautet:  ´Einmal im Leben Seekasse – dann immer bei der Seekasse`

Das bedeutete also in meinem Fall, daß dadurch nicht die BfA in Berlin sondern die Seekasse in Hamburg für mich zuständig war. Aber das hatte der gestreßte Sozialarbeiter völlig übersehen. Prompt kamen auch alle eingereichten Unterlagen aus Berlin wieder zurück, weil man mich bei der BfA in der Kartei bzw. in der Computerdatenbank dort nicht 

gefunden hatte. 

Ein cleverer Mitarbeiter dort hatte allerdings herausgefunden, daß ich bei der Seekasse registriert bin und hatte die Übergangsgeldbeantragung nach Hamburg weitergeleitet. Das ganze Verfahren und die Geldüberweisung hatten sich dadurch jedoch um einen Monat verzögert.

Bei einer nächsten Visite erklärte mir der Stationsarzt Dr.Th...., daß ich aufgrund der guten Genesungsfortschritte nun nicht mehr 

nach der Frührehaphase C behandelt werden würde, sondern in die 

Anschlußheilbehandlung (AHB) eingruppiert worden sei.

Außerdem verordnete er mir eine neue Therapie, die zur weiteren Besserung meiner Bewegungsmotorik beitragen würde. Ich bekam von nun an regelmäßig jeden zweiten Tag ein „Bewegungsbad“ verordnet.

Weil ich mir in Vorbereitung dazu schon in meinem Zimmer die Badehose und den Bademantel anzog, wollte ich nicht so vom 4.Stock aus durch das ganze Haus mit dem Gehstock bis in die Bäderabteilung ins Untergeschoß gehen. Deshalb setzte ich mich dafür mal wieder in meinen Rollstuhl und fuhr damit schneller hin und zurück.

Ich machte die Übungen im Bewegungsbad als Einzeltherapie alleine im Schwimmbeckenwasser. Die Badetherapeutin Christiane V.. gab  mir vom Beckenrand aus die Übungsanweisungen.

Es war sehr angenehm in dem warmen Wasser. Ich stand bis zum Hals im Wasser und fühlte mich schwebend leicht. Die kurzen Arm- und Beinbewegungen, die mir sonst noch schwer fielen, schaffte ich hier spielend leicht. Ich versuchte auch einmal ohne Grundberührung zu schwimmen, aber mit einem Arm und einem Bein schwamm ich erst im Kreis, dann kippte ich auch noch zur Seite und kam mit dem Kopf unter Wasser. Ich gab den Versuch auf. – Also schwimmen konnte ich nun auch nicht mehr !

Ich wollte mir immer mehr zutrauen. Ich brach immer wieder aus und übertrieb ständig. So hatte ich z.B. viel zu früh angefangen lange Wege zu gehen. Aber die gute Therapeutin hatte es schon frühzeitig mit mir probiert aus dem Rollstuhl herauszukommen. Die ersten Schritte machte ich ja halb hängend am Hirtenstab und dann tat ich die nächsten Schritte schon mit dem Gehstock. Als ich dann meinen eigenen, ergonomisch angepaßten Gehstock aus Leichtmetall hatte, ging ich von nun an fast nur noch damit.

Es war natürlich ganz eindeutig ein besseres Lebensgefühl für mich. Ich konnte mich erinnern, daß ich noch vor ein paar Wochen einmal in meinem Zimmer, als ich schon abends in meinem Bett lag, das Bedürfnis hatte noch etwas zu trinken. Die Flasche und das Glas standen jedoch gegenüber auf der Kommode, drei Meter entfernt. Ich war auf einen Spielfilm im Fernsehen voll konzentriert, setzte mich auf die Bettkante, stand auf und - - - merkte gerade noch rechtzeitig, daß ich so ja gar nicht da hinüber kommen konnte. Ich mußte mich in den Rollstuhl setzen, eine Linksdrehung machen, zwei Meter fahren, Flasche und Glas auf den Schoß legen und wieder zurück zum Bett rollen. Große Aktion wegen so einer einfachen Kleinigkeit.

Aber nun ging das alles schon wesentlich besser und einfacher. Jetzt konnte ich meinen Stock nehmen und sofort losgehen. Auch die Treppenstufen erklimmen gelang mir von mal zu mal besser, so daß ich immer öfter die Treppen im Haus hinauf- und hinunterging, anstatt den Fahrstuhl zu benutzen. Dieser übertriebene Eifer wurde noch durch einen Mitpatienten, ein Rollstuhlfahrer, unterstützt, indem er immer, wenn er mich laufen sah, sich ehrlich darüber freute, wie gut ich das doch schon konnte.  

Das wiederum spornte mich jedesmal an, immer öfter und noch länger zu gehen. Dabei trat jedoch ein neues, unangenehmes Krankheits – symptom auf. Je mehr und je länger ich ging und mich angestrengt auf meine Gangart konzentrierte, um so mehr zog mein linker, an sich gelähmter Unterarm vom innenliegenden Muskel, dem Bizeps, angezo-gen hoch vor den Bauch bis in Gürtelhöhe. Dieses war ein uner-wünschtes spastisches Phänomen, welches mich rückwirkend wie-derum beim Gehen beeinträchtigte.

Übermotivation war hier nicht gefragt. Dies` hier, wurde mir klar gemacht, sei kein Sportzentrum, in dem körperliche Hochleistungen zu erbringen wären. 

Die Rehabilitation lasse sich nicht übers Knie brechen. Mit noch so gewaltigen Kraftanstrengungen sei da gar nichts zu erreichen. 

Im Gegenteil: Übertreibungen könnten da nur schaden und die gefürchtete Spastizität erhöhen. 

Also Motivation – ja. Übermotivation – nein. So lautete die Anforde-rung vom Arzt und den Therapeuten hier.

Einmal kam mir auf dem Flur eine nette, sonst immer freundlich grüßende Frau entgegen. Nur, heute schaute sie mich schon von weitem sehr besorgt an und fragte: „Haben Sie Bauchschmerzen ?“   Ich sagte: „Nein, das ist die Spastik in meinem Arm. Der zieht alleine so hoch. Ich kann nichts dagegen machen.“  „Achso, na denn geht´s ja, wenn Sie keine Schmerzen haben.“ – ´Wenn sie wüßte, wie groß und tief der psychische Schmerz dabei in mir saß.` 

Am Freitag, den 14.Januar, war zum Wochenabschluß wieder ein Vortragsabend. Da hatte ich vom Chefarzt Dr.Sch.... zum erstenmal von der sogenannten Arbeitswiedereingliederung „Nach der Reha zurück in den Beruf und in die Firma“ gehört. Es waren dazu die ersten Informationen, die mir drei Monate später nützlich geworden sind.

 

Ich hatte an diesem Tag nach der letzten Therapie, der Elektrotherapie, von Marlies das muskelstimulierende EMG-Gerät leihweise mit auf mein Zimmer nehmen können. So konnte ich an diesem Wochenende erstmals meine Elektrotherapie im Zimmer sogar zweimal am Tag  je ½ Stunde selber durchführen. 

X

Mein Rehaaufenthalt in der Hedon-Klinik war anfangs vom Delmenhorster Krankenhaus für eine Dauer von 4 Wochen beantragt und von der Techniker Krankenkasse genehmigt worden. Dadurch, daß ich aber vor der eigentlichen Anschlußheilbehandlung zuvor 2 Wochen in der Frühreha war, verlängerte sich mein Therapieaufenthalt dementsprechend auf 6 Wochen.

Zu Beginn der 5.Woche befürwortete Stationsarzt Dr.Th..... meine Bitte auf eine nochmalige Verlängerung. Er konnte mein Gesuch aber alleine nicht entscheiden, deshalb nahm er mich zu einem klärenden Gespräch mit zum Chefarzt Dr.Bo..... . Der gab, nachdem er mich kennengelernt hatte, die Zustimmung für eine Antragstellung zur weiteren Verlängerung um nochmal 4 Wochen. 

Er deklarierte seine Zustimmung als einmalige, außergewöhnliche Sondermaßnahme nur vor dem Hintergrund, daß man bei mir in der längeren Therapiezeit eine bessere Rehabilitation erreichen könnte, damit ich anschließend über die stufenweise Arbeitswiedereingliederung evtl. wieder ins Berufsleben zurückgeführt werden könnte.

Meine Krankenkasse bewilligte bis zum 29.Februar 2000 die Verlängerung anstandslos und umgehend per Rückfax.

Der Therapieplan war in dieser Woche täglich vollgeschrieben mit bis zu acht Anwendungen. Man hatte mich außerdem gebeten, ob ich mich freiwillig einem wissenschaftlichen Intelligenztest bei einer jungen Medizin-Studentin unterziehen lassen würde.

Sie bestellte mich zu sich in ein kleines Büro, daß man ihr für ihre Referendarzeit zur Verfügung gestellt hatte. Sie hatte sich gut vorbereitet und schon interessante Frage/Antwort-Spiele für mich zusammengestellt. Ich mußte halbfertige Zeichnungen und Symbole logisch ergänzen und Systemmusterpuzzles vervollständigen. 

Nach 4 Stunden, jeweils 2 Stunden am Freitag und am Samstagmorgen stellte sie mir zum Schluß noch ein paar relativ schwere Allgemein-wissensfragen aus der Geographie, Literatur, Musik und Politik. 

Sie benötigte meine Antworten und Lösungen für die Auswertung in einer Statistik und für einen Teilbericht in ihrer bevorstehenden Doktorarbeit. Sie gestand mir zum Schluß, daß sie überrascht sei, wieviel ich richtig gewußt hätte und wie schnell ich die Logikaufgaben gelöst hätte. Sie war sehr zufrieden mit dem Testergebnis und ich war stolz auf meine eigene Leistung.

Jeden zweiten Tag ging ich zu Holger in die Gleichgewichtsgruppe. Wir saßen dort im Kreis auf Hockern und machten Ballspiele. Wir warfen uns kleine Bälle gegenseitig zu, bei gleichzeitigem Zuruf des Vornamens. Das Fangen mit einer Hand förderte dabei den Gleichgewichtssinn, die Geschicklichkeit und das Namenmerken trainierte die Hirnleistung.

Zum Wochenende wurden meine beiden Tischnachbarn gleichzeitig entlassen, so daß ich am Sonntag ganz alleine am Mittagstisch saß.  Am Abend lernte ich in der Cafeteria den jungen LKW-Fahrer Frank, bei meinem ersten Glas Bier seit nunmehr 10 Wochen, kennen.

Bei ihm am Tisch im Speisesaal war noch ein Platz frei und ich setzte mich am Montagmorgen zum Frühstück mit an seinen Tisch, an dem noch eine lustige junge Frau saß, die oft zu Scherzen aufgelegt war.  Ich war von nun an zu den Mahlzeiten immer in netter Gesellschaft. Das war für mich eine wohltuende Abwechslung und gut für meine Psyche.

In dieser 6.Woche übernahm die KG vertretungsweise Mario bei mir. Er ging am dritten Tag mit mir in die Turnhalle. Als wir durch die Eingangstür in die Halle traten, nahm Mario mir einfach meinen Gehstock aus der Hand und forderte mich auf: „So, nun geh´ mal da ´rüber.“  

Ich sollte also ohne Stock quer durch die Halle gehen. – 

`Unmöglich´, dachte ich. – Doch ich ging los, ein Fuß vor den anderen. Es waren wieder meine ersten freien Schritte seit dem 2.Dezember letzten Jahres. Ich schaffte es tatsächlich bis hin zum Barren an der gegenüberliegenden Wand.

Es sah wohl nicht schön und gleichmäßig aus, aber Mario war damit zufrieden. Dann machte ich noch Gehübungen zwischen den Handläufen des Laufbarrens. Dabei konnte ich mich in einem großen Wandspiegel sehen und mein Gangbild etwas korrigieren. Nach einer halben Stunde, es war gerade 12°°Uhr, gingen wir beide zusammen zum Mittagessen. Meinen Gehstock trug er. Es waren ca. 100 m bis zum Speisesaal. – Ich hatte es geschafft !

An dem letzten Wochenende im Januar bekam ich wieder Besuch von meiner Familie. Am Samstag kamen Ingrid und Malte kurz vor Mittag und wir haben gemeinsam zu Mittag gegessen. Malte hatte gerade  sein  viertel Jahr  Grundausbildung  bei  der  Bundeswehr-Luftwaffe hinter sich gebracht und war nun in der Nähe in Diepholz in der Fliegerhorstkaserne stationiert. Er hatte uns somit viel zu erzählen.  Am Nachmittag saßen wir noch bei Kaffee und Kuchen in der kleinen Cafeteria bevor die beiden mich wieder verließen.

Am Sonntag brachte meine Schwester unsere Mutter am Nachmittag mit zu Besuch. Auch die beiden entführte ich wieder in das gemütliche Café.

An diesem Abend ging ich zufrieden und ausgeglichen in mein Zimmer, legte mich entspannt ins Bett und schaute von dort aus noch ein bißchen Fernsehen. Es war aber nichts Spannendes oder Interessantes mehr zu sehen. Ich fuhr mein Bettkopfteil mit der Fernbedienung per Knopfdruck von der Sitzstellung in die Liegeposition, schaltete den Fernseher aus und das Radio mit dem auf  ½ Stunde Sleeptimer  eingestellten Musiksender FFN an, denn ich konnte immer gut bei leiser Musik einschlafen.

Mir gingen noch so einige Gedanken durch den Kopf, von dem was ich die letzten Tage so erlebt hatte. 

Ich erinnerte mich wieder an den einen Satz, den mein Stationsarzt bei einer Visite vor ein paar Tagen hier im Zimmer zu mir gesagt hatte. Er war Neurologe und ich hatte ihn nach meinen Genesungschancen und insbesondere nach möglichen Veränderungen in meinem Gehirn gefragt. Er gab anfangs nur etwas zögerlich eine ausweichende Ant-wort, legte sich auch zeitlich nicht fest, doch sagte dann eher beiläufig: „Ihre Krankheit beruht auf einer unglücklichen Verknüpfung mehrerer Ursachen. Es stehen dabei im direkten Zusammenhang ein medizini-sches, blutspezifisches Problem mit einer neurologischen und wohl auch psychischen Ursache. Es hat bei diesem Zusammenspiel in der Vergangenheit schon Fälle gegeben, bei denen der Hirninfarktpatient eine schlagartig eintretende, plötzliche Verbesserung seiner körperlichen Behinderung verspürt hat. So etwas ist bei Ihnen auch möglich und kann durchaus eines Tages plötzlich eintreten.“

So eine Bemerkung hatte ich schon einmal vor ein paar Wochen bereits vom Oberarzt im Krankenhaus gehört, der dazu noch ergänzt hatte: „…., Sie können auf so ein Ereignis hoffen, nur erwarten dürfen Sie es nicht !“

Mit solchen Erinnerungsgedanken war ich eingeschlafen. – 

Das erste Morgenlicht leuchtete schimmernd durch die Fenstervorhänge. Ich streckte mich und reckte beide Beine lang. Ich hob den linken Arm, öffnete die geschlossene linke Hand und legte sie mühelos unter meinen Kopf. Dann bemerkte ich, daß die Zudecke halb aus dem Bett gerutscht war. Ich faßte mit den Fingern der linken Hand nach der Decke und zog sie wieder ganz ins Bett. …- ‚Halt mal – was ist denn mit mir jetzt los? – Ich kann ja wieder alles bewegen! – Ich bin nicht mehr gelähmt!-? – Hurraah, es ist in der Nacht plötzlich passiert. Ich hab` meine Hand, mein Bein wieder zurück.’ 

Ich war so voller Freude, daß ich mit einem Satz mühelos aus dem Bett aufsprang. Ich wollte und konnte es einfach nicht glauben. Da stand ich nun sicher vor meinem Bett, bückte mich zu dem Rollstuhl vor, löste mit der linken Hand die Feststellbremse und schob ihn mit beiden Händen vor mir her zum Fenster. 

‚Tatsächlich – ich bin nicht mehr gelähmt. Ich bin wieder gesund. – Gott sei Dank !’ 

Die Zimmertür wurde hinter mir geöffnet. „Guten Morgen – ich bin die neue Nachtschwester. – Haben Sie gut geschlafen?“  

Was war jetzt geschehen? - Ich lag im Bett! - Sie hatte mich gerade eben geweckt. – Es ist alles nur ein Traum gewesen.

Die Bettdecke hing halb aus dem Bett heraus. Ich wollte es zu meiner Gewißheit nochmal testen und versuchte mit der linken Hand danach zu greifen. – Es gelang nicht. – 

Ich hatte nur geträumt - einen schönen Wunschtraum.

           XI

Meine 7.Woche hier in der Hedon-Klinik gestaltete sich als eine sehr aktive Therapiewoche, in der ich viele kleine Fortschritte gemacht habe.

Als positive Bemerkung schrieb ich in mein Tagebuch :

Mittwoch, 2.2.2000 . Ich habe alleine einen Spaziergang mit Stock vom Klinikgebäude bis zur Ampelkreuzung an der B 214 gemacht, 400m hin=20 Minuten und 400m zurück=25 Minuten.

Eine negative Bemerkung lautete aber auch :

Freitag, 4.2.2000 . Ich habe heute Schmerzen im linken Schultergelenk bekommen. Petra behandelt die Schulter durch Auflockerung mit Massage während der Grobmotoriktherapie.

Am nächsten Tag hatte Petra auch Dienst und weil sie am Samstag-vormittag ein bißchen Zeit für mich hatte, schlug sie mir vor, daß wir es nutzen sollten, um für mich einige Sachen für später, für zuhause zu bestellen. Sie bestellte 1 Duschhocker, 1 Wandhaltegriff für die Bade-wanne, 1 Einhand-Frühstücksbrettchen und 1 EMG-Gerät im Hand-koffer für meine eigene Elektrotherapie.

Am folgenden Samstag kam Ingrid wieder zu Besuch und brachte unseren Nachbarn Günther mit. Es war ein schöner, sonniger Wintertag und wir machten einen kleinen Spaziergang durch den Park zum See mit der sprudelnden Wasserfontäne, gingen um den See herum und waren rechtzeitig zum gemeinsamen Mittagessen wieder zurück. Die beiden blieben noch bis zum Abendessen bei mir.

Solche harmonischen Stunden waren immer gut für meine Psyche.

Am nächsten Tag kamen meine Rollerfreunde Reno, Thomas und Achim. Sie waren am Vormittag auf der Motorradmesse in Oldenburg gewesen und anschließend direkt von der Weser-Ems-Halle, allerdings mit dem Auto, zu mir nach Lingen gefahren. Sie berichteten mir über interessante Neuigkeiten von der Messe und über neue Motorrad- und Rollermodelle.

So war das Wochenende durch viele Ablenkungen für mich wieder schnell zu Ende gegangen.

Am Montagmittag bekamen Frank und ich eine neue Tischnachbarin. Nicole kam aus Sudweyhe, einem Vorort von Bremen und war Mutter von zwei kleinen Kindern. Sie konnte interessante Geschichten erzäh-len, von draußen, vom aktiven Leben, an dem wir ja nicht mehr 

teilnehmen konnten, aber sie berichtete auch von ihren eigenen erlittenen Schicksalsschlägen. Es war für mich faszinierend ihr zuzuhören.

Am nächsten Morgen zum Frühstück gesellte sich noch ein „Neuer“ zu uns an den Tisch. Peter (sprich Pieter) war Engländer und kam aus London. Er sprach ein niedliches Deutsch mit starkem englischem Akzent.

So wurden am Tisch Nr.20 nach jeder Mahlzeit oft verschiedenartigste, abwechslungsreiche, interessante Gespräche geführt. – 

Zur Mitte der 8.Woche, meiner 2.Verlängerungswoche, bekam ich wieder eine neue KG-Therapeutin zugeteilt. Christiane war im fünften Monat ihrer Schwangerschaft und wir unterhielten uns während der Übungen angeregt über Kinder und deren Erziehung, nachdem sie von mir gehört hatte, daß ich drei Jungs mit großgezogen hatte.

Ich fühlte mich in diesen Tagen wieder richtig wohl und war sehr zufrieden und ausgeglichen. Ich fand wieder Gefallen am Leben, so wie schon lange zuvor nicht mehr.

Und schon fing ich wieder an etwas zu organisieren. Das hatte ich früher auch oft liebend gerne gemacht.

Am Donnerstag dieser Woche sollten zwei von unserer kleinen, sich gebildeten Patientenclique entlassen werden. 

Also organisierte ich am Mittwochabend eine kleine Abschiedsfeier in der Cafeteria für meinen netten Zimmernachbarn Heinrich von der Station N 4 und Frank vom Tisch 20, mit Udo, Nicole, Peter, Wolfgang, der nicht mehr sprechen konnte und mir. Uns wurde vom wachhabenden Arzt offiziell erlaubt, gemeinsam eine Flasche Sekt und später pro Person eine Flasche Bier zu trinken. Heinrich hatte Salz-stangen, Chips und Nüsse besorgt. Aus dem Kassettenrekorder klang leise Schlagermusik zu unserer angeregten Unterhaltung, bis  22°° Uhr. 

Die Nachtbeleuchtung ging an, es war Bettruhe und wir mußten unsere nette Party beenden.

Am letzten Tag dieser ereignisreichen Woche gab es dann leider noch ein tragisches Ereignis.

Zum Abendessen stand ein Mann am Büffet in der Warteschlange mit dem Teller in der Hand. Plötzlich stützte er sich an der Schulter seines Vordermannes auf. Er wurde  ohnmächtig, sank in die Knie und fiel um. Er lag besinnungslos auf dem Parkettfußboden, als sich zwei Schwestern und eine Ärztin um ihn kümmerten. Nach einer schnellen Untersuchung begannen sie mit rhythmischer Herzmassage durch Brustkorbstöße und Mundzumund-Beatmung. Der Rettungswagen war angekommen und zwei Sanitäter legten ein Sauerstoffgerät an. Der eingetroffene Notarzt führte die Reanimation durch. Er setzte die beiden Elektroden auf den Brustkorb und gab Elektroschocks zur Herzaktivierung. Mittlerweile war jedoch bereits eine halbe Stunde vergangen.  

Wir wurden alle höflich gebeten, den Speisesaal zu verlassen. – 

Man führte dort weiterhin ununterbrochen die Reanimationsversuche an ihm durch. Nach einer Stunde vergeblicher Bemühungen stellte man die Geräte ab.

Man hatte den Mann aufgegeben. Er war gestorben am Herzinfarkt und anschließendem Herzversagen.

Wir saßen alle draußen vor dem Speisesaal in der Eingangshalle. Viele hatten nun zwar noch nichts gegessen, aber uns war auch nicht mehr zum Essen zumute. So gingen wir alle tief betroffen still auf unsere Zimmer. 

 

XII

An diesem zweiten Wochenende im Februar war sehr schönes, trockenes Winterwetter, zeitweise kam sogar die Sonne durch.

Ich freute mich schon auf den angekündigten Besuch.

Am Samstag kam Ingrid und brachte Malte, Sönke und Ina mit.

Nach dem gemeinsamen Mittagessen machten wir zusammen unseren kleinen Spaziergang rund um den Hedon-See.

Am Sonntag besuchte mich dann unser ältester Sohn Roland mit seiner Verlobten Andrea. Er war ganz aus Lenggries, südlich von München, angereist. Ich habe mich darüber sehr gefreut.

Roland hatte über mich und meinen körperlichen Zustand bisher nur per Telefon erfahren. Er war jedoch sehr überrascht und gab mir ehrlich zu verstehen, welche guten Fortschritte ich doch schon gemacht hätte. Die beiden jung Verliebten blieben bis zum Abendessen und fuhren dann zurück nach Bremen.

Am späten Abend rief mich dann noch mein holländischer Freund Ton auf dem Zimmer an und kündigte seinen eventuellen Besuch bei gutem Wetter an. 

Es war mal wieder alles-in-allem ein schönes Wochenende gewesen.

 

Am folgenden Tag war der 14.Februar, Valentinstag.

Ich hatte am Samstag meinen jüngsten Sohn Sönke in einem unbeobachteten Moment zu Seite genommen, ihm etwas ins Ohr geflüstert und einen schon vorbereiteten Umschlag mit Geld und Brief zugesteckt.

So hatte ich es unauffällig arrangiert, daß meine liebe Frau am Valentinstag einen schönen Blumenstrauß, zuhause durch Sönke  überreicht , von mir bekommen hatte. Ihre Freude war groß und sie rief mich anschließend sofort an. Solche kleinen Freuden zu bereiten, hatte ich eigentlich schon immer gerne getan. Um so mehr bedeutet es mir, daß ich es heute auch noch kann.

Zu den Schmerzen in der Schulter, die ich nun ja schon einige Tage hatte, kamen jetzt auch noch leichte Schmerzen im linken Handgelenk hinzu. Meine Therapeutin Christiane behandelte die Schulter und den Arm mit Eisbeuteln und kalten Umschlägen. Das gab etwas Linderung. Außerdem meldete sie meine Beschwerden dem dafür zuständigen Arzt der Orthopädie. Er röntgte mein Handgelenk, was allerdings keinen Aufschluß über die Ursache ergab.

Nachfolgend möchte ich von den verschiedenartigen Auswirkungen

und Symptomen, die nach einem Schlaganfall auftreten können, erzählen.

Nach dem Mittagessen wurde ein Patient entlassen, der im ganzen Haus überall gut bekannt war. Hubert van H. …, ehemaliger Gymnasiallehrer, war hier neun Monate zur Behandlung in der Hedon-Klinik gewesen. Er war nach seinem Schlaganfall rechtsseitig gelähmt, konnte aber auch, so wie ich, mit dem Stock gehen. Allerdings konnte er nicht mehr sprechen, aber alles gut verstehen und sich durch Handzeichen,              Gestikulieren und Gesichtsmimik etwas verständlich machen. Er war ein sogenannter Aphasiker. Zwei Wörter bekam er heraus: „da – das !“ Einmal hatte er sich sehr über etwas geärgert und da platzte es aus ihm laut heraus: „Scheiße!“ Anschließend haben die Schwestern und er herzhaft gelacht und sich zu dem gelungenen neuen Wort gefreut. 

Hubert hatte gemerkt, daß ich den fast wortlosen Dialog zwischen ihm und den Schwestern zufällig mitgehört hatte. Von diesem Tag an 

hatte sich zwischen uns beiden dadurch eine einzigartige Verbundenheit entwickelt. Immer wenn wir uns trafen, lächelte er mir schon von weitem auf dem Flur entgegen und wenn wir uns dann begegneten und ganz nah waren sagte er leise „Scheiße“ und blieb rechts neben mir stehen. Er nahm mir mit seiner gesunden linken Hand meinen Stock ab, so daß ich meine rechte Hand frei hatte, damit ich seine gelähmte rechte Hand ergreifen und fest drücken konnte. 

„Da – das. Scheiße !“ kam es ihm von den Lippen und er freute sich, daß er das sagen konnte. Wir lachten uns gegenseitig an, obwohl es uns beiden im Herzen weh tat und wir eigentlich hätten weinen können. ---

---  An dieser Stelle kann ich dazu erklären, daß ich hier in der Rehaklinik viele Schlaganfallpatienten gesehen und auch näher kennen gelernt hatte. Keiner von ihnen, mich eingeschlossen, hatte die gleichen Folgeerscheinungen. Die Symptome waren sehr unterschied-lich.  Aus Erzählungen und Berichten von Mitpatienten, Therapeuten, Schwestern und Ärzten habe ich herausgefunden, daß jemand, der den Hirninfarkt in der linken Gehirnhälfte erlitten hat, dann rechtsseitig gelähmt ist, weil die Nervenbahnen am Körper über Kreuz laufen. Außerdem ist demjenigen dann die Sprache verloren gegangen, weil sich in der linken Gehirnhälfte eben auch das Sprachzentrum befindet.

Etwa ein Drittel der Schlaganfallskranken leiden an Sprachstörungen. Meist fehlt Ihnen in den ersten Tagen nach dem Hirninfarkt die Sprache völlig, was durch das medizinische Fachwort ‚Aphasie’ (aus dem Griechischen: ohne Sprechen) bezeichnet wird.

Die geschädigten Auswirkungen können sein:

Ein gänzlich verlorengegangenes Sprachvermögen, oder eine mehr oder weniger verworrene Aussprache, eine häufig falsche Wortwahl, 

die Bildung verdrehter, unverständlicher Sätze, die Suche nach Wörtern und oft vergessenen Begriffen. Das sind in unterschiedlichster Auswirkung alles Symptome eines Aphasikers. Außerdem kann es Ausfallserscheinungen geben wie :   kein Erinnerungsvermögen mehr, eine starke Vergeßlichkeit, keine örtliche Orientierung mehr, ein mangelndes Selbstbewußtsein, Gleichgewichtsstörungen, oder auch kein Gefühl mehr an den Gliedmaßen.

Eine neue Erkenntnis hatte ich also bekommen, daß immer dann, wenn ich einem rechtsseitig gelähmten Rollstuhlfahrer begegnete, er meistens nicht sprechen konnte.

Es gibt auch Menschen, die nach einem Schlaganfall auf einem Auge das Sehvermögen verloren haben. Oder es kommt vor, daß jemand ein Augenlid nicht mehr bewegen kann und somit das Auge immer offen oder geschlossen ist.

Schlimm sind auch jene Fälle, in denen Schluckbeschwerden dem Betroffenen das Essen zur Qual machen können. Eine etwas geringere Leidensform ist das oftmalige Verschlucken beim Essen, was ich bei mir selber auch häufig festgestellt habe. 

Man muß beim Essen immer achtgeben, daß man überlegt und kontrolliert gut schluckt. Dabei ist vorher darauf zu achten, zum Beispiel nicht gleichzeitig das Schwarzbrot und den Schluck Tee im Mund zu haben und dann auch noch etwas sagen zu wollen; das führt unweigerlich zur Katastrophe.

Als eine mögliche weitere Folge eines Schlaganfalls kann sich beim Sehen eine Einschränkung des Gesichtsfeldes und eine fehlerhafte Koordination des Blickens eingestellt haben. Das bedeutet, daß der Betroffene oftmals nur noch mit großer Mühe lesen kann, weil er jede Zeile in der Mitte zu lesen beginnt und nicht am linken Zeilenrand. Ein Manko, das dann Zeile um Zeile mühsam neu erlernt und ausgeglichen werden muß.

Eine neueste wissenschaftliche Erkenntnis bei der Gehirnforschung hat noch etwas anderes Interessantes ergeben. 

Es heißt da : ‚Männer hören wohl mit beiden Ohren, aber erfaßt und umgesetzt wird das Gehörte nur in einer, nämlich der linken Gehirn-hälfte, dort wo auch die Sprachverarbeitung liegt.- Frauen hören jedoch mit beiden Gehirnseiten, rechts und links gleichzeitig. 

Ein Grund dafür, daß die meisten Hirninfarktpatienten, die das totale Sprachvermögen verloren haben, Männer sind !’

Letztlich sagt das Wort „Schlaganfall“ wenig aus. Es ist ähnlich unpräzise wie das Wort  „Autounfall“. Ein Autounfall kann leicht oder schwer sein, kann bloß ein zersplitterter Scheinwerfer an dem Auto sein, kann aber auch Dutzend Tote und Schwerverletzte zur Folge haben.

Auch Schlaganfälle können leicht oder schwer sein, können nur kleine, vorübergehende Schädigungen zur Folge haben, aber auch irreparable Schädigungen schwerster Art nach sich ziehen.

Ein unfehlbares Rezept für die Beseitigung der Folgen eines Hirninfarktes gibt es ebenfalls nicht. Auch nicht eine Garantie, daß eine Rehabilitation gelingen muß, weil sie in einem anderen – möglicherweise ähnlichen – Fall einmal gelungen ist.

Ein Arzt hat mir gegenüber einmal den markanten Ausspruch geäußert:

„Jeder Schlaganfall ist ein Fall für sich. Der Eine ist dabei nur etwas ins Stolpern gekommen und der Andere ist ganz tief gefallen.“

Wohl aber gibt es in den allermeisten Fällen eine Chance, die Lage des Betroffenen wieder zu verbessern. Wie groß diese Chance ist und was tatsächlich in welcher Zeit erreicht werden kann, das weiß niemand im Voraus. – Aber die Chance besteht.

Um sie nutzen zu können, bedarf es einiger Tugenden, die in unserer heutigen Zeit nicht sehr verbreitet sind. Es sind dies` die Geduld und Ausdauer, Disziplin und Gelassenheit, Zuversicht und der Glaube.

Das sollte eigentlich so schwierig nicht sein, meint man. Es kostet jedoch oftmals sehr viel Überwindung den eigenen Schweinehund und die einfachere Bequemlichkeit zu besiegen.

Die Horror-Liste dessen, was ein Schlaganfall für den Betroffenen bedeuten kann, ist lang, was sich nicht zuletzt aus der ungeheuren Komplexität des menschlichen Gehirns erklären läßt. Die komprimierte Größe des Gehirns und die miteinander verknüpfte Vielschichtigkeit erlauben die verschiedenartigsten und schrecklichsten Schädigungen und Auswirkungen.

Mich jedenfalls erfüllt in Kenntnis dessen, was auch möglich gewesen wäre, tiefe Dankbarkeit dafür, daß ich so glimpflich davon gekommen bin und mir wirklich Schlimmeres oder Furchtbareres erspart geblieben ist.

Denn – ich habe meine Gedanken, meine Erinnerungen, meine Sprache und überhaupt meinen eigentlich klaren Kopf und alle meine intelligenzmäßig im Laufe des Lebens erworbenen Fähigkeiten behalten.

In einem später absolvierten Intelligenztest wurde für mich ein Intelligenzquotient IQ = 114 errechnet, welcher weit über dem Durchschnitt normalintelligenter Menschen liegt.

Meine 9. Hedon-Woche war wieder voll verplant mit vielen Therapien.

 

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