Blog - Teil 2      Erste Rehabilitation  /  Hedon-Klinik

IV

Kurz vor dem Mittagessen kamen wir in der Rehaklinik an und ich wurde in der  Hedon-Klinik,Lingen aufgenommen. Mit dem Rollstuhl fuhr man mich in den 3.Stock auf die Station der Frührehabilitation .

Die Hedon-Klinik ist eine Rehaklinik, die u.a. auch speziell für die Behandlung und Rehabilitation von Hirninfarktpatienten ausgerich-tet ist. Hier sind mehrere Neurologie-Ärzte und viele neurologisch ausgebildete Krankenschwestern und Therapeuten tätig.

Meine Einweisung hier auf die Station „Frühreha“ hatte ich wohl der Bemerkung: ´Erste Rehabilitationsmaßnahme nach stationärem Krankenhausaufenthalt` auf dem Überweisungsformular vom Delmen- horster Krankenhaus zu verdanken.

Die Frühreha war in der Hedon-Klinik jedoch eine geschlossene Station für Patienten mit schweren psychischen Hirnschädigungen, Verwirrtheit, Unselbstständigkeit, Hilflosigkeit und dergleichen.

Als geschlossene Station gab es hier tatsächlich keine Türgriffe von innen an den Ausgangstüren.

Ich war gottseidank nun in meinem Zimmer glücklicherweise wieder alleine, obwohl es auch ein Dreibettzimmer war.

Das erste was ich machte war, nachdem die kleine drahtige Kranken- schwester mir eindringlich erzählt hatte wieviel ich unbedingt trinken muß und sie wieder draußen war, ich stellte mir den Fernsehapparat ein und programmierte mir die Programme erst mal logisch richtig mit der Fernbedienung auf den Apparat. Am Abend wunderte sich dann die Nachtschwester, daß der Fernseher überhaupt richtig funktionierte, dazu noch so ein gutes Bild zeigte und so viele Programme zu empfangen waren. Das hätte es ja hier noch nie gegeben.

Solche Momente genoß ich immer sehr. Dabei fühlte ich mich dann bestätigt, daß alles andere in meinem Gehirn noch normal und gut funktionierte. Außerdem stärkte es mein Selbstbewußtsein und das Selbstvertrauen in mir.

Als ich am nächsten Morgen an meinem Bett die hochgeklappten Seitengitter selber entriegelt und heruntergeklappt hatte, mich in den Rollstuhl reinrutschen ließ und in dem kleinen Badezimmer selbst-ständig zuvor geduscht hatte, da hatte die Stationsschwester sich doch sehr gewundert.

Später fuhr ich mit meinem Rollstuhl am Schwesterntresen vorbei zur verschlossenen Stationstür und wunderte mich, daß ich hier nicht hinauskonnte. Die Oberschwester gab mir dann aber die Ausnahme- genehmigung die Station verlassen zu dürfen. Sie öffnete mir von nun an die Tür vom Tresen aus mit der elektrischen Türentriegelung.

Ich rollte in das Treppenhaus zu einem Fenster mit herrlichem Ausblick in die weite Winterlandschaft.  Es war wunderbar.  Ich hatte zum erstenmal seit über zwei Wochen wieder weiter schauen können als bis zur gegenüberliegenden Zimmerwand.

Meine erste Therapeutin, Frau We..., die sich mit mir beschäftigte, fuhr mich mit einem neuen Rollstuhl, der zu meiner Körpergröße besser paßte, mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß und schob mich zu  einer Art Hausbesichtigung  zum Kennenlernen durch das ganze Haus.

Am nächsten Tag fuhr ich dann alleine mit meinem Rollstuhl im Fahrstuhl in alle Etagen und rollte auf Erkundungstour überall herum bis hin zum Speisesaal im Erdgeschoß. – ´Ach, wie gerne würde ich auch einmal wieder normal an einem Tisch essen wollen.`  

Wenn ich hier nun davon spreche, daß ich mit meinem Rollstuhl fuhr, so muß man sich das so vorstellen : Ich drehte mit der rechten Hand nur das Rad auf der rechten Seite zum Vortrieb. Das führte natürlich dazu, daß ich immer einen Linksbogen fuhr. Zum Gegenausgleich trat ich mit dem rechten Fuß quer dagegenan, damit ich wieder geradeaus rollte. Das hört sich aber nun einfacher an, als es in Wirklichkeit war .

Am 3.Tag in der Hedon-Klinik war ich ohne Hilfe, allerdings mühsam, mit meinem Rollstuhl nach draußen auf den Parkplatz zum Briefkasten gefahren, um ein paar Postkarten, die ich geschrieben hatte, einzuwerfen. Auf dem Rückweg mußte ich eine lange Schräge, die ich zuvor mit Tempo heruntergerollt war, nun aber einhändig wieder hochfahren. Da kamen mir die physikalischen Grundregeln, die ich einmal als Student gelernt hatte, wieder in Erinnerung. Ich drehte meinen Rollstuhl herum und fuhr rückwärts, mich mit dem rechten Fuß an der Erde abstoßend, so relativ leicht den schrägansteigenden Weg hinauf.

Schon ab dem 2.Tag habe ich Krankengymnastik (KG) mit meiner Frühreha-Therapeutin Zandra gemacht. Anfangs kam sie zu mir ans Bett, später fuhr ich zu ihr in den Bobathraum.

An dieser Stelle sei hier erklärt, daß die KG  hauptsächlich nach den Therapierichtlinien von Prof.Dr. Bobath gemacht wird. 

Das sind vornehmlich motorische Bewegungsübungen zum Wieder-aufbau und zur Kräftigung der Muskulatur. Außerdem soll dabei das Gehirn wieder verlorengegangene Bewegungsabläufe neu erlernen.

Mir wurde schon im Krankenhaus und nun auch hier in der Rehaklinik von mehreren Ärzten erklärt, daß in meinem Falle durchaus die Chance bestehe, daß andere Teile in meinem Gehirn, um den abgestorbenen Teil herum, das übernehmen und erlernen was mir verlorengegangen ist, nämlich die Bewegungsmotorik meiner linken Körperseite.

Um das zu erreichen seien aber ein langes Training, immer wieder neue Versuche und viel Übung notwendig. Dabei müsse ich aber viel Geduld haben, denn dieser Lernprozeß gehe sehr langsam vor sich und könne sich über mehrere Jahre hinziehen. Dabei würde es zeitliche Abschnitte geben, in denen viele Fortschritte in dem neurologischen Lernprozeß erreicht werden können. Es würde jedoch auch Zeiten geben, da geschehe wenig; da gebe es dann einen sogenannten Still-stand. Aber daran dürfe man dann eben nicht verzweifeln und müsse Geduld haben. Geduld – viel Geduld ! Da war sie wieder, die ewige Ermahnung nach einem Schlaganfall.

Das was mich psychisch am meisten belastete, war dieser Rollstuhl, an den ich so sehr gebunden war und ohne den ich mich nicht hätte fortbewegen können.

Mein sehnlichster Wunsch war es, eines Tages aus ihm heraus zu kommen und wieder auf meinen eigenen Füßen zu stehen und gehen zu können.

Diesen Gedanken habe ich dann auch ausdrücklich der Stationsärztin Frau Dr. Ro... und der Therapeutin Zandra gesagt.

Am nächsten Tag gab Zandra mir einen Hirtenstab in die rechte Hand. Dieser Hirtenstab ist ein 2 m hoher Holzstock, an dem ich mich mit meiner rechten Hand am ausgestreckten Arm hochziehen konnte und nun mit Hilfe und Stütze von Zandra die ersten 3 Schritte vom Therapietisch weg und wieder zurück machte. Ein kleiner Anfang mit diesen mühsamen ersten 6 Schritten war also getan.

Ich hatte jedoch eine ganz andere neue Erfahrung dabei gemacht. Ich hatte nämlich bisher immer angenommen, daß es mir an Kraft und Muskelstärke im Bein fehlen würde und ich deshalb nicht laufen konnte. Aber nun hatte ich festgestellt, daß ich durchaus genügend Muskelkraft im Bein besaß, denn ich konnte sogar aus der Hocke heraus mich wieder hochdrücken.

Nein – es war etwas anderes was mir fehlte. Es war die Koordination mehrerer gleichzeitiger Muskelbewegungen und die unbewußte Steuerung von Bewegungsabläufen der Kräfte in verschiedene Richtungen was mir fehlte.

Als gesunder Mensch merkt man gar nicht, daß man bei jedem Schritt viele kleine Muskelspiele und ausgleichende Bewegungen mit dem Fuß und dem Bein macht, um gleichmäßig gehen zu können. Diese Fähigkeiten haben wir alle schon, im Babyalter angefangen, erlernt.

Nur ich habe diese Fähigkeit in dem Schicksalsmoment, 57 Jahre später, mit einem Schlag wieder verloren. Jetzt liegt es an mir, meinem Gehirn in einer anderen Stelle das wieder beizubringen, was es schon einmal gelernt hatte und bis dahin immer leisten konnte. 

Auf meine Bitte hin erläuterte mir der Neurologe von meiner Station in einem persönlichen Gespräch einige medizinische und neurologische Zusammenhänge. Er sagte :

„Leider sind Nervenzellen ziemlich empfindlich und können nur wenige Minuten ohne Durchblutung und ohne Sauerstoff auskommen.

Sind sie einmal abgestorben, können sie sich nicht mehr erholen.

Zum Glück liegen ca. 58% unserer Nervenzellen scheinbar untätig in unserem Gehirn und warten förmlich auf neue Aufgaben. So können Funktionen in gewissem Umfang wiedererlernt werden, die verloren gegangen sind. Das heißt, es ist medizinisch nachgewiesen, daß es Übertragungsstellen zwischen den Nerven gibt, die eigentlich untätig sind, die aber aktiviert werden können. Es können auch die Eigen-schaften der Informationen von einer Nervenzelle zur anderen effektiver gestaltet werden oder es können sich neue Übertragungs-stellen durch Aussprossen von neuen Adern und neuen Nervenzellen

bilden. Daraus resultiert, daß Teile des Gehirns, die bisher für ganz andere Funktionen verantwortlich waren, dann die Funktion einer anderen Hirnregion, die verletzt ist, übernehmen können. Das kann in vielen Fällen nur durch Geduld und Ausdauer in der Therapie erreicht werden, wobei es allerdings jener Patient sehr viel schwerer hat, dessen Schlaganfall gewisse Gedächtnisstörungen und Antriebsstörungen zur Folge hat. Aber ein Mensch, der diese Symptome nicht hat, dessen Persönlichkeit durch den Schlaganfall nicht verändert wurde und der daher die Möglichkeit hat, mit seiner ganzen Persönlichkeit gegen die Folgen seines Schlaganfalls anzukämpfen, der kann dadurch gelegent-lich selber wahre Wunder bewirken. – Jedenfalls ist es falsch, wenn jemand behauptet, daß Therapieerfolge nur in den ersten drei Monaten nach dem Schlaganfall möglich seien. – Wir wissen heute, daß das nicht stimmt. Wir können auch nach über zwei bis drei Jahren schein-baren Stillstandes durchaus noch Fortschritte erreichen !“

Es war ein interessantes, aufschlußreiches Gespräch, das ich mit ihm geführt hatte.

Das Gefühl der Unbeholfenheit, der Hilflosigkeit, das mich vor allem bei der Bobath-Krankengymnastik mit Zandra, aber auch bei anderen Übungen immer wieder überfiel, den Frust, der in mir aufstieg, wenn eine Übung, die so kinderleicht aussah, nicht oder nur schlecht gelang, vermag ich nicht zu beschreiben.

Wenn ich darüber hinweg kam, die Übungen wieder und wieder probierte, bis es endlich doch noch halbwegs klappte, dann war das nur zum kleinen Teil meiner Ausdauer zu verdanken, jedoch weit mehr dem Geschick der Therapeutin, mit wenigen Worten Fehler in meinen Bewegungen zu korrigieren, mich im richtigen Moment anzufeuern und auch zu loben, wenn etwas gut gelang.

Mitunter erhielt ich Lob auch dann, wenn ich selbst nicht glaubte es verdient zu haben. Etwa dann, wenn ich auf dem Therapietisch, auf dem Rücken liegend, beide Arme hoch strecken sollte, mir das aber nur mit dem rechten Arm gelang und Zandra meinen linken Arm und Hand nach oben führte, dann die Hand los ließ und ich meinen linken Arm trotz größter Willensanstrengung und Zandras eindringlichem Zuspruch: „Halten, halten – oben halten !“ nur ein paar Sekunden schwankend und zitternd neben der ruhig ausgestreckten Rechten zu halten vermochte.

Ebenso erging es meinem Bein.

Mein linkes Bein und der Fuß waren gelähmt. Die Muskeln hatten keinen Tonus mehr. Die Steuerung der Muskelbewegungen war in meinem Gehirn verlorengegangen. Es war als sei der Fluß der ein- und ausströmenden Impulse, die normalerweise automatisch den Muskel- tonus aufrechterhalten, ganz und gar unterbrochen worden. 

Der neurale „Verkehr“ war sozusagen gestoppt worden und die „Straßen der Stadt“ lagen ausgestorben und verlassen da.

Das Leben - das neurale Leben – war zeitweilig zum erliegen gekom- men, sofern „zum Erliegenkommen“ nicht ein zu optimistischer Ausdruck war. Im Schlaf, besonders im Tiefschlaf, entspannen sich die Muskeln und der neurale Fluß nimmt ab, hört jedoch nie ganz auf.

Die Muskeltätigkeit wird Tag und Nacht in Gang gehalten von einem ständigen, lebendigen Pulsieren und Zirkulieren winziger Impulse, die jederzeit zu voller Aktivität ausgeweitet werden können.  

Nicht einmal in einem Koma wird die Muskeltätigkeit ganz eingestellt. Sie wird vielmehr in einem ganz langsamen Takt, im Leerlauf ge-wissermaßen, aufrechterhalten. Allerdings vorausgesetzt immer bei einem neurologisch normal funktionierenden Gehirn. So wie das Herz, hören die Muskeln während des ganzen Lebens nicht auf zu arbeiten.

Mein Quadrizeps jedoch hatte, soweit ich das beurteilen konnte, aufgehört zu arbeiten. Er war vollständig gelähmt und ohne jeglichen Tonus. Er „schlief“ nicht bloß, sondern war wie tot und mußte quasi vom Tode wieder auferweckt werden, um wieder ins Leben zurück- zukehren.

Leblosigkeit war etwas Absolutes, das nicht mit Müdigkeit oder Krankheit zu vergleichen war. Wenn ich den Muskel bewegen wollte, so rührte sich nichts. Wenn ich den Muskel „rief“, kam keine Antwort. Mein Ruf wurde nicht erhört. Der Muskel war „taubstumm“.

Aber war das alles ? Würde das ausreichen, um mir den Eindruck von Stille zu geben ? Wenn man ruft, so hört man seine eigene Stimme – selbst wenn der Ruf vom Empfänger nicht beachtet wird.

Was geschah da mit mir ? Ich war nicht in der Lage, mir vorzustellen oder mich zu erinnern wie gewisse Bewegungen auszuführen waren. Meine Bemühungen in dieser Richtung waren nichts weiter als ein lächerlicher Selbstbetrug, denn ich hatte die Fähigkeit verloren, einen Teil von mir selbst zu rufen.

Ich konnte mir das alles nicht erklären. Ich hatte das Gefühl, daß sich unter mir Abgründe auftaten. Daß die Muskeln gelähmt, daß sie taub waren, daß das lebenswichtige, schwingende Fließen der Impulse auf- gehört hatte – all dies´ beunruhigte mich zutiefst.

Es erschien vor mir  das Bild eines Schiffes mit den soliden Schiffs- planken, den erfahrenen Matrosen und dem steuernden Kapitän – ich selbst. Dieses Bild, das ich mir von mir selbst gemacht hatte, nahm jetzt horrorartige Züge an. Nicht genug damit, daß einige der soliden Planken morsch und verrottet waren, daß die erfahrenen Matrosen taub, ungehorsam oder abwesend waren – nein, ich selbst, der Kapitän, war nicht mehr Kapitän auf meinem Schiff. Das Schiff gehorchte nicht mehr meinen Steuerbefehlen. Es schwamm wohl noch, aber wohin ging die Fahrt ?

 

Thema : Ergotherapie - - >>  Spastik

V

An meinem 4.Tag hier in der Hedon-Klinik, vier Tage vor Weih-nachten, am Montagmorgen, zum Wochenanfang machte ich meine erste Ergotherapie mit Frau We.... .

Die Ergotherapie ist vornehmlich eine Bewegungsübung mit der Schulter, dem Arm, der Hand und den Fingern.

In diesen ersten Tagen hier in der Rehaklinik machte sich bei mir ein bisher unbekanntes Phänomen bemerkbar. Ich bemerkte es zuerst früh- morgens im Bett : Beim Gähnen streckte sich mein linkes Bein, ohne daß ich es eigentlich wollte, derart stark, daß ich dachte ich würde das Fußbrett von meinem Bett abtreten. Dann beim Aufstehen, Sitzen auf der Bettkante und Rüberrutschen in den Rollstuhl  da bemerkte ich, wie mein linker Arm immer anwinkelte und der Unterarm sich quer vor den Bauch hochzog.

Gut,- wenn ich dann im Rollstuhl saß, war das wieder eine normale und bequeme Haltung. Zumal ich auf beiden Stuhllehnen aufliegend, quer vor meinem Bauch eine Plastikplatte liegen hatte, den sogenann- ten Therapietisch. Da lag mein linker Unterarm sowieso vor mir drauf. Insofern fiel das dann nicht weiter auf. 

Aber als ich wieder ein paar Stand- und Gehversuche machte, zog mein Unterarm mit der Hand sofort waagerecht bis zur Gürtelhöhe hoch.

Bei einer nächsten Visite notierte die Stationsärztin die Bemerkung in meiner Krankenakte : Hirninfarkt rechts , Hemiparese (Lähmung) links

Auswirkung als Hyperlipidemie (Lähmung mit starker Spastik) .

Das was ich also an mir so neu bemerkt hatte, war eine sogenannte „Spastische Wirkung“, die sich von nun an hauptsächlich an meinem linken Arm immer mehr auswirkte. Leider wirkte diese Spastik sehr stark gegen meine Bestrebungen, die Lähmung zu überwinden und wieder Muskelbewegungen zu bekommen.

An diesem Montagabend, es war eigentlich schon in der Nacht, nämlich 22°°Uhr, kam die Stationsärztin Frau Dr. Ro.... zu mir ans Bett. Ich sah mir noch einen Spielfilm im Fernsehen an und wunderte mich, daß sie zu dieser Zeit noch zu mir ins Zimmer kam und nicht die Nachtschwester.

Sie sagte: „Guten Abend Herr Aschemoor, es ist zwar schon spät, aber wir haben eben eine ältere Dame auf der Station aufnehmen müssen, die sehr krank ist. Ich muß sie zur besseren Beobachtung und Versor- gung in dieses Zimmer einquartieren. Nun kann ich Ihnen aber nicht zumuten hier auch zu bleiben, deshalb möchte ich Sie bitten, heute abend noch umzuziehen und zwar auf die normale offene Station der Neurologie. Sie kommen in ein schönes, wohnlich eingerichtetes Einzelzimmer.“ – Nun gut, ich hatte nichts dagegen einzuwenden.

So zog ich also kurz vor Mitternacht um. Die Nachtschwester packte meine Sachen in den Koffer, die Ärztin half mir aus dem Bett in den Rollstuhl und schob mich persönlich über die Flure der Frühreha hinaus auf die Neurologie-Station N3 bis ins Zimmer 307.

VI

Es war natürlich eine aufregende Angelegenheit, dieser nächtliche Umzug. Aber ich fühlte mich sofort sehr wohl in meinem schönen, möblierten Zimmer. Das Bett war kein weißes Stahlrohr-Krankenbett, wie ich es bisher gewohnt war, sondern ein normales Holzbett aus naturfarbenem Holz. Das Besondere daran war aber die motorische Verstellbarkeit der Betthöhe, das Anheben des Kopfteiles und auch des Fußteiles mittels einer Fernbedienung am Bett.

Der großräumige Kleiderschrank mit innenliegenden Schubläden be- stand ebenfalls aus naturfarbenem Buchenholz. Im Zimmer befanden sich noch eine Kleiderkommode und ein Schreibtisch, auf dem der Fernsehapparat stand, sowie das integrierte Bettschränkchen mit abschließbarer Schublade, auf dem ich das Telefon in greifbarer Nähe stehen hatte. Es gab eine breite Fensterfront mit weißen Gardinen und grünen Vorhängen. Der Fußboden war ein echtes Holzparkett, hochglanzversiegelt.

Ich war zufrieden und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen wurde ich vorsichtig von der mir noch unbe- kannten Nachtschwester geweckt: „Guten Morgen – achso, Sie sind der Neue – Haben Sie gut geschlafen ?“

6°°Uhr --- ich wußte im ersten Moment gar nicht wo ich war.

Ich schaute auf ein schönes, eingerahmtes Bild an der Wand gegenüber – ach ja – mein neues ´Wohnzimmer`.

Die Nachtschwester kam ans Bett : „Ich muß Sie leider ein bißchen quälen, Herr Aschemoor, Sie bekommen nun von mir eine Trombose-spritze in den Bauch.“ – Das mußte wohl immer noch sein. 

Danach stand ich auf, setzte mich in meinen Rollstuhl und eroberte meinen großen, schöngefliesten Waschraum mit der Duschkabine, der Toilette mit Wandhaltegriffen, dem niedrig angebauten Waschbecken und dem Spiegel darüber, der bis zum Waschbecken herunterreichte, so daß ich mich im Rollstuhl sitzend waschen, rasieren und im Spiegel sehen und kämmen konnte.

Die Stationsschwester auf meiner neuen Station holte mich danach ab zum Blutdruckmessen auf dem Flur am Patiententreffplatz vor dem Schwesterntresen. 

Sie war zufrieden mit meinen Werten: 120/80,Puls 80 und sagte :

„Hier müssen Sie von nun an jeden Morgen vor dem Frühstück zum Blutdruckmessen herkommen, Herr Aschemoor. – Ich habe Sie übrigens zum Frühstück unten im Speisesaal angemeldet und einen Fensterplatz für Sie am Tisch reserviert. Ist das okay ?“

„Ja, natürlich – danke“. So fuhr ich also das erstemal zum Essen ins Erdgeschoß, zum Speisesaal und brauchte nicht mehr im Zimmer zu essen. Ich war überglücklich und zufrieden und hatte das starke innere Gefühl : ´Jetzt werde ich wohl bald gesund`.

Ich war von nun an wieder unter Menschen, unter gleichgesinnten Menschen. Die Patienten hier in der Rehaklinik hatten alle ein ähnliches Leiden. Man spürte, wie sie sich in das Leiden eines anderen leichter hineindenken konnten  als ein normal gesunder Mensch, weil sie zuvor alle schon Ähnliches durchgemacht hatten.

Einige waren auch schon weiter vorangekommen in ihrer Genesung oder Rehabilitation. Bei einigen hatte sich ein leichter Hirninfarkt auch nicht so stark ausgebildet, so daß die Rückbildung und das Wieder-erlernen der Körperfunktionen schneller vonstatten gingen.

Aber ich merkte sofort wie einfühlsam und mitfühlend viele hier waren, die ich kennengelernt habe.

Es waren überwiegend ältere Menschen, die ich hier traf. Dabei fiel mir ein : Die meisten Schlaganfälle treffen Menschen über 70. 

Doch eine Untersuchung hat andererseits auch ergeben, daß jeder vierte Schlaganfallpatient jünger als 65 Jahre alt ist.

Somit bin ich dann wohl der „Vierte“ gewesen?!

Bei uns auf der Station, beim Schwesterntresen hing ein großes Plakat, herausgegeben von der Deutschen Schlaganfall-Stiftung, darauf stand : „Einen Schlaganfall kriegen nur ganz alte Leute. So ab 29 !“

Diese Botschaft, die so übermittelt wurde, ist so einfach und doch so wichtig. Darunter wurde weiter erläutert: „Einen Schlaganfall bekommt man nicht einfach so. Es gibt Risikofaktoren. Es gibt Warn-signale und es gibt Möglichkeiten, sich zu schützen. Also passen Sie auf sich und Ihren Körper auf und informieren Sie sich. Denn nur wer Bescheid weiß, kann sich schützen.“

Ein anderes eingerahmtes Plakat sagte aus : 

„Blutdruckmessen dauert nur 5 Minuten.

Ein Schlaganfall dauert ein Leben lang !“

Doch wenn ich all` die Plakate und Broschüren gesehen habe, so fragte ich mich dabei jedesmal ´ Was waren denn meine Risikofaktoren ?`  

Denn ich konnte für mich keine Risiken aufzählen. Ich hatte auch vor meinem Schicksalstag keine Warnsignale zu spüren bekommen. Doch es ist trotzdem geschehen – warum auch immer !? 

In der Tat ist das Gehirn – das wichtigste Organ des Menschen – im Vergleich zu allen anderen Organen am meisten durch eine Ver-ringerung der Durchblutung in seiner Existenz bedroht. Bei Störungen der Blutzufuhr - und nichts anderes ist ein Schlaganfall - sind Gehirn-zellen im Kerngebiet der Durchblutungsstörung innerhalb von paar Minuten vom Absterben bedroht, in der Umgebung dieses Zellenkern-gebietes innerhalb von paar Stunden.

- Doch zurück zu meiner derzeitigen, momentanen Umgebung. -

Es gab hier einen großen Speisesaal, in dem alle schon wieder besser- gestellten, mobileren und selbstständig essenden Patienten zu den drei Mahlzeiten an den Tischen saßen.                                               Daneben gab es einen kleinen Speiseraum, in dem vornehmlich Roll- stuhlpatienten zum Essen eingeteilt waren, die noch Hilfe bei der Essenseinnahme oder deren Vorbereitung benötigten. Hierzu standen dann eine Therapeutin und ein ´Zivi` hilfreich zur Seite.

Ich war natürlich als Rollstuhlfahrer und Einhändiger auch in dem kleinen Speiseraum eingeteilt.

Hier lernte ich das sogenannte ´Frühstücksbrettchen für Einhänder` erstmals kennen. Das hatte ich bisher in meinem ganzen Leben vorher noch nie gesehen. Da lag ein rutschfestes Brettchen aus weißem Kunst- stoff an meinem  Platz auf dem Tisch, das hatte an der rechten Kante entlang sechs mit der Spitze nach oben stehende Nägelchen und auf der linken Seite eine nach rechts gerichtete, hochliegende, ohne Stiel befestigte Gabel.

Die Therapeutin zeigte mir die zweckmäßige Handhabung meines Frühstücksbrettchens. Ich konnte da z.B. auf die Nagelreihe die Brot- schnitte aufpieksen und bestreichen. Mit dem Gabelkopf konnte ich ein Brötchen quer aufteilen und dann eine Brötchenhälfte feststecken und somit zum Bestreichen positionieren.

Dieser Lernprozeß stand dann am nächsten Tag mit auf meinem Thera- pieplan als sogenanntes  ´Eßtraining`.

 

---------------------- Fortsetzung in Teil 3  ------ >>>