Blog - Teil 3 Empfindungen
VII
Adventszeit – drei Tage vor Heiligabend.
An der Infotafel im Flur vor dem Speisesaal war auf einem Aushang- zettel zu lesen, daß ein Kirchenblasorchester aus Lingen am Nach – mittag in der Eingangshalle neben dem geschmückten Tannenbaum ein Weihnachtskonzert gibt.
Es war für mich eigentlich schon schwer genug hier in Lingen, weitab von zuhause, in der vorweihnachtlichen Zeit, von meiner Familie getrennt zu sein. Deshalb hatte ich mir fest vorgenommen, alle Sentimentalitäten von mir fern zu halten.
Bisher mochte ich die alten Traditionen in der Weihnachtszeit wie Adventskranz, Kerzenschein, Weihnachtsbaum, Lichterglanz und weihnachtliche Musik recht gern. Doch nun, in meinem jämmerlichen Zustand, wollte ich an diese Zeiten, an die besinnlichen Abende zuhause mit den drei Kindern und der Frau eigentlich nicht mehr erinnert werden.
Aber ich rollte zu der im Aushang angekündigten Zeit doch in das über alle Stockwerke offene Treppenhaus, um mir die Blasmusik anzuhören. Es war ein beeindruckendes Weihnachtsblaskonzert, gespielt von zehn Musikern mit Trompeten, Hörnern und Posaunen. Es wurden schöne Musikstücke herrlich klar und rein gespielt. Der Klang schallte durch das offene Treppenhaus in alle Flure auf alle Stationen.
Ich saß in unmittelbarer Nähe der Bläser und als sie dann auch noch das wunderbare Lied „Es ist ein ´Ros` entsprungen“ spielten, da war es um meine Beherrschung geschehen. Da brach alle Wehmut, die ich bis dahin unterdrückt hatte, aus mir heraus und ich weinte bittere Tränen.
Am nächsten Morgen machte ich KG auf neurophysiologischer Grundlage mit meiner neuen Therapeutin Karina das erstemal. Mit ihr übte ich weiter das Gehen mit dem Hirtenstab. Ich schaffte schon acht Meter hin und zurück.
Eine Spezialuntersuchung, das EEG, eine sogen. Gehirnstrommessung gab Aufschluß über meine optimale Gehirntätigkeit. Das Ergebnis war sehr gut und zeigte keine abnormalen Auffälligkeiten.
Auf meinem Anwendungsplan stand die Therapie Hirnleistungstraining. Ich rollte hin und lernte ein sehr interessantes Gedächtnistraining durch Arbeitsaufgaben am Computer kennen. Es waren kleine Logiktests, Intelligenzspiele, Rechenaufgaben, die man auf Zeit und Schnelligkeit lösen mußte, Denksportaufgaben, Figuren- und Zeicheneinfügespiele sowie Reaktionsschnelligkeitsspiele. Die Auswertung nach ½ Stunde ergab bei mir ein sehr gutes Resultat von 98% richtig.
Die Elektrotherapie mit Marlies, zu der ich ins Untergeschoß mit dem Fahrstuhl fuhr, war eine muskelstimulierende Elektrostromanwendung für den Arm, die Hand oder auch das Bein und den Fuß.
Dazu klebte mir Marlies drei kleine Kabelplättchen auf den Unterarm, stellte das elektrische Stimulationsgerät auf meine Symptome abgestimmt passend ein und schaltete an. Nach 10 Sekunden durchfloß meine Muskeln, Sehnen und Nerven am Unterarm und Hand ein elektrischer Reizstrom, der die Muskeln derart stimulierte, daß meine Hand sich zum Handrücken hin hochwinkelte und die Finger sich streckten. Ein starkes Kribbeln durchfloß den Arm und die Hand.
Es war ein wunderbares Gefühl, zu sehen wie meine gelähmte Hand und die Finger sich zum erstenmal seit drei Wochen wieder bewegten. Ich starrte wie gebannt auf meine linke Hand.
Marlies erklärte : „Sie müssen sich auf die Bewegung Ihrer Hand konzentrieren, Herr Aschemoor, richtig bewußt mitdenken was da passiert. Nicht nur einfach geschehen lassen, was der Apparat da mit Ihrer Hand macht. Die Bewegung muß jetzt umgekehrt wieder gelernt in Ihren Kopf rein.“ – Ja, mir war das schon klar – und ich dachte jede Bewegung meiner linken Hand fleißig mit.
Einen Tag vor Heiligabend fuhr ich ins Erdgeschoß zu meinem KG-Termin mit Karina. Dort im Bobathraum angekommen, wollte ich mich gerade selber umsetzen vom Rollstuhl auf den Therapietisch, da meinte Karina : „Nein, bleiben Sie mal sitzen – wir machen heute etwas ganz anderes.“ Sie schob mich wieder auf den Flur bis zum hinteren Treppenhaus. Ich dachte noch so bei mir ´Was will sie denn hier mit mir ? Hier ist doch kein Fahrstuhl !`
Sie schob mich bis vor die unterste Treppenstufe und stellte die Bremse fest. „So und nun bitte aufstehen, das können Sie doch schon.“
Ich stand auf und hielt mich am rechten Treppengeländer fest.
„So, nun mal mit rechts zuerst eine Stufe hoch.“
Sie stützte mich unter dem linken Arm, ich trat auf die erste Stufe und zog den linken Fuß nach.
„Nein – das können wir doch besser, Herr Aschemoor. Wie sind Sie denn vorher eine Treppe raufgegangen ?“
Ich lachte sie an „Da hab` ich oft zwei Stufen auf einmal genommen !“ „Na – das tut jetzt nicht gerade nötig. Aber der linke Fuß überholt nun gleich den rechten auf die nächste Stufe.“
Gesagt – getan . Ich konnte es tatsächlich ! Ich hing zwar mit aller Kraft am rechten Handläufer und zog mich daran hoch, aber ich schaffte es die ersten neun Stufen bis zur Treppenkehre hochzugehen.
Karina fragte: „Na – geht´s noch ? Woll`n wir noch weiter hoch ?“
„Ja – möchte ich wohl !“ Der Ehrgeiz spornte mich selber an.
Ich bin dann 3 x 9 Stufen hoch und wieder runter gegangen. Nach unten brauchte mich Karina dann nicht mehr zu stützen, sondern ging nur zur Sicherheit zwei Stufen voraus.
Als mich Ingrid am Abend anrief, erzählte ich ihr voller Freude von meiner Bezwingung der 54 Stufen.
Außerdem hatte ich ihr noch zu berichten, daß ich heute schon wieder umgezogen bin. Nur diesmal nicht unter so spektakulären Umständen wie zuvor.
Ich konnte in ein noch besser gelegenes Zimmer, eine Etage höher, auf der Neurologiestation N4 ins Zimmer 411 einziehen. Es lag direkt gegenüber vom Schwesterntresen, wo jeden Morgen immer Blutdruck gemessen wurde. Für mich war das nun sehr bequem, dorthin zu kommen, denn ich hatte jetzt nicht mehr so einen weiten Anrollweg.
Am nächsten Tag war Heiligabend.
Meine Familie hatte sich zum 1.Weihnachtstag zum Besuch angemeldet.
Aber es gab zuvor auch noch einen halben Tag Arbeit mit Therapien und Übungen.
Bei der KG mit Karina bin ich zuerst 30 Meter am Stock gegangen.
Im Bobathraum gab es ein Trimmfahrrad, das sogenannte ´Reckrad`, mit dem ich im Rollstuhl sitzenbleibend, die Beinmuskulatur kräftigen konnte. So trainierte ich an diesem Vormittag auch noch ½ Stunde vom Rollstuhl aus mit dem Recktretrad.
Anschließend noch ½ Stunde Elektrotherapie bei Marlies und somit hatte ich mir mein Mittagessen gut verdient.
Auf dem Speiseplan der exzellenten Küche stand heute:
Vorspeise: Romaneskosüppchen mit Lauchstreifen
* * *
Kalbsgeschnetzeltes „Stroganoff“ mit Gurkenstreifen,
Rote Beete mit frischen Champignons dazu Kartoffelröstli
* * *
Nachspeise: Williams-Birnenmüsli
Ich ließ mir Zeit beim Essen und genoß es gemütlich eine Stunde lang.
Am Nachmittag übermannten mich die Gedanken an zu Hause, denn das war immer traditionsgemäß unsere Zeit der Bescherung mit den Kindern.
Um mich ein bißchen abzulenken und um auf andere Gedanken zu kommen, ging ich mit dem Gehstock nach unten in die Cafeteria.
Bei einer Tasse Cappuccino und einem Stück Kuchen kam ich dann auch leicht ins Gespräch mit zwei anderen Leidensgenossen.
Es war erfrischend ablenkend. Schräggegenüber, hinter der Vogel- voliere, konnten wir gut den Ausgang sehen und stellten fest, daß sehr viele Patienten das Haus verließen. Das waren die Wochenendurlauber, die schon längere Zeit hier in Behandlung waren und die nun für die Feiertage vom Stationsarzt Freigang genehmigt bekommen hatten.
Zum Abend hin war die Klinik somit nur noch halb belegt und die, die geblieben waren, durften alle im großen, festlich geschmückten Speisesaal zu Abend essen. Es gab ein leckeres, weihnachtliches Büffet mit Überraschungsdessert.
Nach dem herrlichen Abendessen sollten wir Patienten von der Station N4 uns alle um 19°°Uhr auf dem Flur vor dem Schwesterntresen einfinden.
Es waren nur noch acht Patienten anwesend. Wir saßen in gemütlicher Runde mit drei Schwestern und unserem Pfleger an einem weihnachtlich gedeckten Tisch bei Kerzenschein und leiser Musik und unterhielten uns kontaktfreudig beim Kaffee, Tee, Spekulatius und von der Schwester selbstgebackenem Kuchen.
Zum Schluß gab´s noch eine kleine Überraschung. Wir bekamen von der Klinikleitung, durch die Oberschwester überreicht, jeder einen kleinen Präsentkorb. Darin lagen Mandarinen, Nüsse, Schokokugeln, eine Flasche Piccolo-Sekt, ein Fingertrainingsball, ein Massierwaschhandschuh und ein Massagehandroller.
Danach in meinem Zimmer stand mein Telefon stundenlang nicht mehr still. Ich bekam Anrufe von Ingrid, von unseren Söhnen Roland aus Bayern, Malte und Sönke von zuhause aus Stuhr, von meiner Mutter und Schwester aus Bremen, von meiner Schwiegermutter aus Bayern und von meinen Rollerfreunden Reno, Achim, Thomas und Dieter aus Bremen.
Am nächsten Morgen nach dem Duschen, Anziehen und Blutdruckmessen (130/80) fuhr ich zum Frühstück wieder in den großen Speisesaal. Die Auswahl am Büffet war groß und pikant.
Wie verabredet kam meine Familie nun am ersten Weihnachtstag zu mir in die Klinik zu unserer kleinen Familienweihnachtsfeier.
Um 12°°Uhr kamen zuerst Ingrid mit Malte und Sönke zu Besuch.
Ich hatte die drei zum Mittagessen mit angemeldet und dann dazu im festlich dekorierten Speisesaal an meinem Tisch eingeladen. Es gab :
Aufgeschlagenes Brunnen-Kressesüppchen
* * *
Weihnachtlicher Gänsebraten an Traubensoße,
Orangenrotkohl und Kräuterkartoffelknödel
* * *
Lebkucheneis auf Zimtpflaumenspiegel mit Sahne
Ich will mit dieser genauen Beschreibung hiermit nur deutlich machen, wie gut die Klinikküche und der Chefkoch das Essen zusammengestellt und zubereitet haben. – Es hat uns allen vorzüglich geschmeckt.
Und diese große Zufriedenheit bewirkte für mich wiederum ein wohltuendes Gefühl und war gut für meine angeschlagene Psyche. Insofern ist ein gutes, wohlschmeckendes Essen auch hier in der Rehaklinik durchaus wichtig.
So kamen mir Gedanken an meine Großmutter wieder in Erinnerung.
Sie hatte oft auf Plattdeutsch gesagt: „Goot Eeten un veel Drinken hoolt Lief un Seel tosomen“ („Gut Essen und viel Trinken hält Leib und Seele zusammen“).
Nach dem Mittagessen machten wir vier gemütlich langsam einen Spaziergang bei herrlich schönem Winterwetter durch den Klinikpark rund um den kleinen See. Ich schaffte es recht gut mit dem Gehstock. Am Nachmittag kamen dann meine Schwester Inge mit meiner Mutter und meine beiden Neffen Lars und Harm zu Besuch dazu.
Ich führte alle zusammen durch´s Haus auf einer kleinen Hausbesichtigung zu den Therapieräumen, zum Schwimmbad, Bewegungsbad, Fitneßraum, Sauna, Kaminzimmer, Leseraum, Speisesaal, Restaurant und Café. Danach setzten wir uns auf meiner Station am Flurende an einen großen Tisch zusammen zur improvisierten Familienweihnachtsfeier bei Kaffee und Kuchen mit anschließender Weihnachtsbescherung. Gegen Abend mußten dann alle wieder wegfahren und mich alleine zurücklassen, denn sie hatten ja auch noch über 100 km wieder nachhause zu fahren.
Nach dem Abschied, als ich wieder auf meinem Zimmer war, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und fing aus Wehmut und Selbst-mitleid bitterlich an zu weinen.
Trotzdem – es war ein schöner Tag.
Am 2. Weihnachtstag gab es zu Mittag einen leckeren Rehbraten. Er hat mir auch sehr gut geschmeckt. Nur mußte ich ihn heute an meinem Tisch ganz alleine essen, denn meine Tischnachbarn waren nicht da.
Der Tag nach den Feiertagen war ein normaler Wochenanfang. Der Montag begann mit der allmorgendlichen Thrombosespritze und der Blutdruckkontrollmessung.
Nach dem Frühstück war Visite und ich fragte den Stationsarzt Dr.Th... wie lange ich denn noch diese lästigen Spritzen bekommen muß.
Er antwortete mir: „Wenn Sie den Rollstuhl überhaupt nicht mehr gebrauchen und den ganzen Tag mit dem Stock gehen, dann haben Sie genug Bewegung, dann brauchen Sie den Schutz gegen eine Thrombose nicht mehr.“
Auf meine zweite Frage, warum mir immer von den Schwestern geraten wird viel zu trinken und zwar mindestens 2 Liter am Tag, gab er mir die einfache Erklärung, daß die Nieren viel arbeiten müssen, damit das Blut dünnflüssig bleibt.
Gegen eine Bildung von Blutplättchen sowie eine evtl. Blutverdickung nahm ich sowieso immer noch jeden Mittag zur Vorbeugung eine kleine Tablette ASS 100 (ähnlich Aspirin) nach der Mahlzeit ein.
Vor dem Abendessen hörte ich mir in der Aula einen Vortrag von der Diät-Assistentin an. Das Thema war über Cholesterin und entsprechend richtige Ernährung gegen einen zu hohen Cholesteringehalt. Es war sehr interessant und dazu gelernt wurde dabei auch :
Es gibt drei Richtwerte , den HDL-Wert, der mindestens 35 mg/dl betragen sollte , den LDL-Wert, der maximal 160 mg/dl nicht über- schreiten sollte und den Gesamtcholesterinwert, der bei maximal 200 mg/dl liegen darf.
Ich kannte meine Werte sehr genau und wußte, daß meine drei Werte von der letzten Blutuntersuchung alle im normalen Gutbereich lagen.
Die letzten Tage vor Jahresende waren bei mir im Therapieplan an jedem Tag von morgens um 8°° bis abends 18°°Uhr voll verplant. Ich hatte drei neue Therapeutinnen zugeteilt bekommen.
Mit der kleinen Petra Ni.... machte ich nun Krankengymnastik und zu Diana, der Logopädin, ging ich zur Mundmotorik, um mich von ihr an der linken Gesichtshälfte zur Stimulisierung der Nervenbahnen mit Eisstückchen behandeln zu lassen.
Bei der Elektrotherapie hatten Marlies und ich uns nun auf mein Bein und den linken Fuß konzentriert. Der Reizstrom zog dabei alle zehn Sekunden meinen linken Fuß hoch.
Grobmotorik machte nun die Ergotherapeutin Petra P...., die sich dabei um die Beweglichkeit von Arm und Hand bemühte. Sie war es auch, die für mich einen eigenen Gehstock bei der Techniker Krankenkasse beantragt hatte. Zwei Tage vor Silvester wurde er geliefert und von Petra auf meine Größe passend eingestellt. Sie überreichte ihn mir mit der lockeren Bemerkung : „Na, dann woll´n wir mal hoffen, daß ´de ` den vielleicht garnich´ mehr so lange brauchst !“ –
Ich wußte nicht so recht, was ich davon halten sollte, denn ich hatte ja eigentlich auch immer noch meinen Rollstuhl. – Aber ich übte sofort mit dem Gehstock, anfangs gemeinsam mit ihr, das bessere und auch gleichmäßige Gehen.
An diesem Abend ist mir im Zimmer etwas ganz Dummes passiert.
Ich saß auf der Bettkante und hatte mir gerade noch ein paar Notizen in mein Tagebuch geschrieben. Da rutschte mir der Kugelschreiber vom Schoß auf den Parkettboden nach links runter. Im Reflex wollte ich reaktionsschnell, sogar mit der linken Hand, noch danach greifen , aber da lag er auch schon unten.
Das Folgende, was nun geschah, passierte eigentlich aus dem Affekt heraus, ohne daß ich dabei an mich dachte. Ich hatte in diesem Moment tatsächlich vergessen, daß ich ja Links garnicht greifen kann; trotzdem wollte ich mit der linken Hand zum Fußboden greifen. Ich verlor dabei das Gleichgewicht, kippte nach vorne links rüber, mein linkes Bein konnte auch nicht stützend dagegenhalten und eh´ ich mich versah war ich von der Bettkante gerutscht und ziemlich hart auf dem Holzparkettboden mit der Hüfte aufgeschlagen.
Da lag ich nun auf meiner gelähmten Seite quer vor meinem Bett, hilflos, fast so wie ein Maikäfer auf dem Rücken.
Ich dachte : ´Jetzt könnte ich eigentlich einmal Hilfe gebrauchen. –
Wo ist die Klingel ? – Ach nein, die ist ja oben über dem Nachttisch, da komm` ich nicht ran.`
Ich mußte mich auf meine rechte Seite drehen, damit ich mich aus der Lage heraus mit dem rechten Arm und Bein hochdrücken konnte, um wieder ganz hoch zu kommen. Aber als ich mich nach rechts herum- gewälzt hatte, da lag ich halb unter meinem Bett.
Kurz zuvor war ich noch ziemlich verzweifelt gewesen, aber nun mußte ich doch ein bißchen lachen, darüber wie hilflos ich eigentlich war. Ich drückte mich mit dem rechten Bein und Arm wieder unter dem Bett hervor, konnte mich auf das rechte Knie hochstemmen und mich an der Bettkante wieder hochziehen. Ich hatte sogar noch daran gedacht, den Kuli zu greifen und mit hochzunehmen.
Da saß ich nun wieder auf meinem Bett und konnte auch die Klingel erreichen, um die Schwester rufen zu können, aber nun brauchte ich sie nicht mehr. Ich hatte mir ja selber geholfen !
Am vorletzten Tag in diesem Jahr bekam ich noch Besuch von Reinhold, unserem netten Nachbarn aus dem Wald in Sandhatten bei Oldenburg. Wir haben dort schon viele Jahre ein Waldgrundstück mit einem Ferienwohnhaus und Reinhold wohnt dort mit seiner Frau gegenüber. Er kam zu mir zur Kaffeezeit und wir hatten ein erfrischen-des Gespräch, einmal über ganz andere Dinge, bei einem Kännchen Kaffee in der Cafeteria, was mich auf völlig neue Gedanken gebracht hatte. Er blieb bis zum Abendessen und ich schaute ihm beim Abschied wehmütig über den Parkplatz hinterher.
Am nächsten Tag, es war der letzte Tag in diesem Jahrtausend, wurde ich zu einer neuropsychologischen Diagnostik eingeteilt.
Es war ein Intelligenztest über eine Dauer von 2 Stunden in einer Gruppe von 8 Leuten.
Der Psychologe Herr Norbert E.... nannte uns in schneller Reihenfolge 10 Begriffe, die wir uns einprägen sollten und danach jeder für sich auf einem Zettel wieder aufschreiben mußten. Ich hatte noch alle zehn im Gedächtnis behalten und war mit mir selber für´s erste zufrieden.
Dann folgten Wiederholungsaufgaben und das Erkennen von Formen, Farben und geometrischen Figuren. Daraufhin erzählte er uns eine lebhafte, spannende Geschichte und jeder von uns mußte nacheinander einen kleinen Teil der Geschichte nacherzählen.
Es folgten Rechenaufgaben mit Zahlen in den vier Grundrechenarten und als Wortsatzaufgaben. Zum Schluß nach 2 Stunden fragte er nochmal nach den zu Beginn genannten 10 Begriffen. Ich hatte noch 8 davon behalten !
In der darauffolgenden Woche bekam ich die Auswertung und mein Ergebnis mitgeteilt. Ich hatte als Bester von allen mit 98% richtig abgeschnitten, bekam ein besonderes Lob ausgesprochen und einen entsprechenden Eintrag in meine Krankenakte.
An diesem Nachmittag hatte ich mich nach diesem doch anstrengenden Hirnleistungstest für gute zwei Stunden zum Schlafen hingelegt. Außerdem wollte ich sowieso vorausschauend auf die lange Silvesternacht auch etwas Schlaf vorholen.
Das Winterwetter war so schlecht, daß ich keinen Besuch mehr erwarten konnte.
Von 19°° bis 24°°Uhr schaute ich mir in meinem Zimmer normal angezogen vom Sessel aus die Silvestershows im Fernsehen an.
Ich trank dazu den kleinen Piccolo-Sekt aus dem Wasserglas, denn es war ja schließlich die besondere Silvesterfeier in der ganzen Welt –
das „Millenium“ ins Jahr 2000. – „Man gönnt sich ja sonst nichts !“
Von 0°° bis 3°°Uhr war ich dann im Schlafanzug auf den Silvesterpartys in Sydney, Moskau, Paris und in Berlin live dabei.
VIII
Am Neujahrsmorgen bekam ich viele Anrufe von Verwandten und Bekannten, u.a. auch von den Nachbarn Inge und Günther, Christa und Günter, mit denen Ingrid und ich die Jahre zuvor immer zusammen Silvester gefeiert hatten.
Der sonst alljährliche regelmäßige Neujahrsanruf bei uns zuhause
von meinem langjährigen holländischen Freund Ton erreichte mich nun hier. Wir führten ein langes, intensives und mir wohltuendes Gespräch.
Mir wurden bei allen Telefonaten sehr viele ehrlich gemeinte gute Wünsche zu meiner Gesundheitsgenesung für die weitere Zukunft ausgesprochen, so daß ich emotional sehr gerührt und jedesmal dankbar dafür war.
Als Neujahrsessen gab es mittags ein üppiges Grünkohlessen. Das war lecker und mal was Anderes.
Am Abend schaute ich mir im Fernsehen einen alten Kinofilm zu meiner Entspannung an : „Sissi, die junge Kaiserin“.
Hierbei entdeckte ich zum erstenmal an mir eine weitere Veränderung meiner Psyche. Die Filmhandlung hatte mich so sehr in den Bann gezogen, daß ich bei einer traurigen Szene leise weinen mußte.
Ich , als erwachsener Mann, weinte bittere Tränen um „Sissi“. – ´Hoppla Jürgen, wach auf. – Wo bin ich denn hier? – Ich bin hier in der Hedon-Klinik in Lingen und das war eben Romy Schneider im Film !`
Am folgenden Sonntag hatte ich nach dem Mittagessen an einer interessanten Gesprächsrunde in der Cafeteria mit vier Gleichgesinnten teilgenommen. Ich möchte an dieser Stelle die dabei ausgedrückten Empfindungen und Äußerungen einmal wiedergeben.
Unser erstes Gesprächsthema handelte davon, daß hier in der Reha- klinik für uns eigentlich alles anders ist, als es im normalen Leben davor war, als noch jeder seine beiden funktionierenden Beine, Arme und Hände hatte. Für sie, denen Arbeit oder Familie im Genick saßen und die sich ständig sorgten und ängstigten, war es die erste wirkliche Zeit der Muße, der erste echte ´Urlaub`, den sie je gehabt hatten.
Das erste Mal, daß sie Zeit fanden zu denken oder emotional zu fühlen. Während dieser Zeit dachten wir alle, jeder auf seine Art, gründlich nach und wurden durch diese Erfahrung, so nehme ich an, grundlegend und manche für immer verändert.
Im Krankenhaus hatten wir unser Gefühl für die Welt verloren. Erst hier im Rehazentrum begegneten wir wieder der Welt.
Der Tagesablauf hier in der Rehaklinik war wichtig. Die festgesetzten Termine der Therapien waren pünktlich nach dem Plan einzuhalten.
Die vorgeschriebenen Zeiten und gesetzten Grenzen waren von wichtiger Bedeutung. Ohne sie wären wir vielleicht in Planlosigkeit, Undiszipliniertheit und Chaos abgetrieben. Wir hätten unsere individuellen Fähigkeiten falsch eingeschätzt, wären regressiv und untätig dagelegen oder hätten uns weit über die zumutbaren Grenzen hinaus falsch angetrieben.
Noch besaß keiner von uns die Widerstandskraft, die mit der Gesund- heit einherging. Wir waren schwach und gefährdet und brauchten je nach Verfassung mehr oder weniger Hilfestellungen oder Zuwendun-gen. Wir brauchten eine gewisse Struktur, denn wir waren noch nicht in der Lage, uns körperlich der Freiheit der Gesundheit, wie man sie von früher her kannte, ihrer Ausgelassenheit und Fülle zu erfreuen.
In dieser Gefühlsverfassung ging ich nachdenklich auf mein Zimmer. Daß es ein zweites, ein neues Leben war, das hatte ich endlich be-griffen, nachdem ich mich lange genug gegen diese Einsicht gewehrt und so getan hatte, als ob das, was geschehen war, nur so eine Art Betriebsunfall gewesen wäre.
Es hatte lange genug gedauert, bis aus der Ahnung schließlich doch Gewißheit geworden war.
Nichts war mehr so wie früher und würde auch nie wieder so sein.
Gegen Abend dieses Sonntages, des zweiten Tages im neuen Jahr, besuchten mich noch mein jüngster Sohn Sönke (19) und seine Freundin Yasmin (17). Sie waren überraschenderweise ohne Voran- kündigung zu mir gekommen. Ich habe mich sehr gefreut, die beiden lebhaften jungen Leute für zwei Stunden bei mir zu Besuch erlebt zu haben.
Am nächsten Morgen begann eine aktive, therapiereiche Woche. Meine Therapien waren Krankengymnastik (auf neurophysiologischer Grundlage nach Bobath), Ergotherapie für die Grobmotorik, Elektro-therapie (EMG), Logopädie für den Mundwinkel, Koordinations-gruppe, Gleichgewichtsgruppe und Hirnleistungstraining.
Ich ließ keine Therapie aus und ging soweit ich es zeitlich schaffte auch alle Wege über alle Stockwerke durch´s Haus zu Fuß mit meinem eigenen neuen Gehstock. Jede Therapie dauerte immer eine halbe Stunde.
In der Koordinationsgruppe trafen wir uns in der Turnhalle zu gemein- schaftlichen Übungen und Spielen unter Anleitung der beiden Therapeutinnen Christiane und Martina.
Wir waren in der Gruppe meistens zehn Leute, davon häufig fünf Rollstuhlfahrer.
Ein Gruppenspiel war z.B. das Tuchschwingen. Dabei saßen wir alle im großen Kreis auf Hockern oder im Rollstuhl uns gegenüber und hielten vor uns ein großes Tuch von 4 m Durchmesser an 10 Ecken fest. Die meisten konnten das natürlich nur mit einer Hand, entweder mit rechts oder mit links. Jetzt wurde das Tuch gemeinsam nach oben und wieder nach unten durchgeschwungen. Diese Übung förderte das gemeinschaftliche Handeln, den gemeinsam erreichten Effekt mit der intensiven Luftbewegung, das Gleichgewichtsgefühl jedes einzelnen und das Gruppenerfolgserlebnis.
An meinem 19. Tag hier in der Hedon-Klinik wurde eine Nervenuntersuchung an mir vorgenommen. Eine Fachärztin untersuch- te mit Blinkreflexen meine Gesichts- und Augennerven. Das Resultat druckte sie anschließend sofort aus. Ergebnis: keine abnormalen Auf- fälligkeiten, normale Reaktionen und gute Durchschnittsmeßwerte. Sie war zufrieden und ich mit mir auch.
Am nächsten Tag mußte ich noch einmal bei ihr erscheinen. –
Jetzt wollte sie es wohl ganz genau wissen? Sie machte an mir noch eine sogen. SEP-Nervenuntersuchung mit elektrischem Reizstrom. Dabei konnte sie meine Reflexe, Empfindungen, Gefühle und Reaktionen der Arme und Beine messen. –
Das Resultat war : keine Auffälligkeiten, alles Normalwerte.
Am Ende jeder Woche wurde am Freitagabend vom Oberarzt Dr.Sch... ein Vortrag zur Gesundheitsbildung in der Aula gehalten.
Am Freitag dieser ersten Januarwoche war sein Thema: Der Schlag- anfall, seine Risikofaktoren, Ursachen, Wirkung und Auswirkung.
Zum letzten Thema, der Auswirkung, hatte ich selber eine merkwürdige psychische Veränderung an mir bemerkt.
Ich machte hier eine völlig neue Erfahrung. Ich stellte an mir selber ein fremdartiges Phänomen fest. Es war ein für mich ein befremdliches Empfinden, welches ich bisher noch nie erlebt hatte.
Ich beschreibe es in etwa so:
Die Besucher, die hier ins Haus kamen und denen ich auf dem Flur, in der Eingangshalle oder auch unten am Kiosk begegnete, besaßen eine für mich schmerzhafte Gesundheit. Ich haßte ihre Gesundheit, ihre starken jungen Körper, ihre totale Kontrolle der Bewegungen,
ihre vollkommene Körperbeherrschung. Ich haßte ihre sorglose Ausge-lassenheit und Freiheit – ihre Freiheit von den Beschränkungen, die ich so übermächtig in mir selbst spürte. Mit bösartigem Neid sah ich zu ihnen hin, mit gemeiner Verbitterung, mit der giftigen Bosheit des Invaliden. Oft wandte ich mich ab. Ich konnte sie nicht länger ertragen. Und auch meine eigenen Gefühle, meine Unvollkommenheit, die mir in solchen Momenten so kraß bewußt wurde, konnte ich nicht mehr ertragen. Ich ging dann woanders hin, um mich anderweitig zu beschäftigen, mich abzulenken von solchen schlechten Gedanken. Und wiederum war es so, daß ich mich vor diesen Gedanken mir selber gegenüber schämte. Und ich dachte dazu: ´Kann sein, daß du so fühlst, aber du darfst es auf keinen Fall zeigen. Du darfst dir deine nieder- trächtigen Gedanken nicht anmerken lassen.` Gottseidank hatte ich diese irrläufigen Gedanken nur bei den mir völlig fremden Menschen festgestellt. Bei meinen eigenen Besuchern und den mir vertrauten Menschen traten diese Vorstellungen garnicht erst auf.
Meine bösartigen Gedanken jedoch gingen sogar noch weiter : Begegnete mir doch eines nachmittags auf dem Flur ein Besucher, ein Mann, etwa 50 Jahre alt, der meiner Meinung nach für sein Alter viel zu schnell, forsch und übertrieben gesund mir entgegen kam.
Zu seiner vor Gesundheit strotzenden Vitalität kam auch noch ein leichtes Grinsen in sein Gesicht, als er mich bemerkte, wie ich ihm am Stock humpelnd entgegen kam. Dieses Grinsen war sicherlich zutrau-lich nett gemeint, aber anstatt höflich zurückzugrinsen, verkniff ich das Gesicht und dachte: ´Grins du nur. So was wie mir, kann dir heute-abend auch ganz plötzlich passieren. Du wirst schon sehen, warte nur ab, dann geht´s dir auch so wie mir.`
Ich war entsetzt über diese Reaktion, diese gehässige, bittere Abkehr vom Leben, diese plötzlichen Ausbrüche von Verbitterung in mir.
Die andere Gefühlsseite von mir war die, daß ich oft den ganz kranken und gebrechlichen Alten im Haus freundlich, verständnisvoll und zutraulich zulächelte. Tatsächlich war es jedoch so, daß ich in solchen Momenten niemand anderen ertragen konnte. Beim Anblick von Kranken und Leidenden ging mir wehmütig das Herz über, aber es verschloß sich sofort, sobald mir Gesundheit bewußt vorgeführt wurde.
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Yippieh! Dein erster Besucher ist jetzt hier – der erste Schritt ist gemacht. Wie du ihn jetzt auf deiner Seite hältst? Indem du hier fortsetzt, was du im ersten Textblock angefangen hast. Im ersten Textblock gibt es ja eine kurze, knackige Übersicht. Und nun geht´s frisch weiter. Nur ran ! Du machst das schon! Gruß Walter 22.02.2018
Das Med. Studio von Nadja Bastron grüßt Jürgen Aschemoor. Sie sind ein besonderer Gast in meinem Haus. Wünsche weiterhin "Viel Erfolg" und Mut zum Leben.
Gruß Nadja 11.11. 2019
Das Friseurstudio von Anke L. grüßt Jürgen Aschemoor. Als meine treuen Kunden sehe ich Sie und Ihre Frau immer gerne bei mir auf dem Stuhl. Auch in diesen schweren Zeiten mit der Corona
Pandemie geht es nun langsam wieder in ein normales Leben über. Ich wünsche Euch weiterhin immer eine gute Gesundheit.
Lieber Gruß Anke
07.07.2020
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